Ich bin die Oberlippe“, sagt Aljoscha Lüpke, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Das wirft natürlich eine weitere Frage auf als die nach der, in welcher Rolle er auf der Großen Treppe zu sehen ist. Der 30-Jährige ist die Oberlippe der fleischfressenden Pflanze „Audrey II“ in dem Stück „Der kleine Horrorladen“. Aljoschas Schwester Anaïs Lüpke spielt die Unterlippe. Dazu kommen noch rund ein Dutzend Statisten, die die Tentakel bewegen. Schauspieler zu werden war für Aljoscha verlockend.„Aber auch Theaterpädagogen stehen sehr gern auf der Bühne“, begründet der gebürtige Haller seine außergewöhnliche Rolle, die ihm einen Heidenspaß macht.
Seit Mai 2022 ist Aljoscha Theaterpädagoge bei den Freilichtspielen, eine Institution, die er schon seit seiner Kindheit kennt. Seine theateraffine Mutter hat ihn zu den Aufführungen mitgenommen. Später sammelte er erste Erfahrungen in der Theater-AG im Jugendclub. Es folgte ein FSJ Kultur, das seine Leidenschaft für das Theater weiter anheizte. Während des Freiwilligen Sozialen Jahres hatte er sich an Schauspielschulen beworben, bald aber bemerkt, dass ihm „dazu der richtige Biss fehlt und ich nicht gut darin bin, mich selbst zu promoten“. „Natürlich ist es schön, auf der Bühne zu stehen und am Ende Applaus zu bekommen“, räumt Aljoscha ein. Aber eine Tätigkeit, etwas weniger im Rampenlicht, aber mit all dem, was ihn an der darstellenden Kunst so sehr fasziniert, schien ihm dann doch besser geeignet. Nach einem Auslandsjahr in Neuseeland bewarb er sich daher am Institut für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück im niedersächsischen Lingen.
Immer näher gerückt
Los ging es dort mit Schnuppertagen, an denen die Bewerber das Auswahlkomitee davon überzeugen sollten, dass sie die perfekten Anwärter für das Studium sind. Gut erinnert sich Aljoscha an eine Improvisationsaufgabe. Einer aus der Gruppe setzte sich auf eine Bank, die anderen hatten die Aufgabe, ihn davon zu überzeugen, den Platz frei zu geben. Verbal kann das kaum gelingen, ist sich der Haller recht schnell sicher, denn das würde nur in Argumentation und Gegenargumentation münden. Er entschied sich für den subtileren Weg und setzte sich einfach nur stumm daneben. „Dann bin ich der Person alle paar Sekunden ein Stückchen näher auf die Pelle gerückt, bis deren persönliche Distanzzone überschritten war.“ Am Ende des Tages hatte Aljoscha den Studienplatz in der Tasche. Er zog von Hohenlohe ins Emsland und startete dort in eine emotionale Reise zu sich selbst.
Schauspielunterricht, Atmen, Bewegung, Ensemblebildung, Impulstraining, theoretische Pädagogik und eigene Projekte waren Themen im Studium. In der Praxis ging es etwa darum, anerzogene Blockaden zu überwinden, wieder zu lernen, frei wie ein Kind zu spielen, persönliche Grenzen auszutesten und sich selbst besser kennenzulernen. Auch den eigenen Körper, Mimik und Gestik beherrschen zu können, Sprechunterricht, Tanz sowie Spieltechniken und Theatergeschichte gehörten zur Ausbildung. Großartige Erfahrungen, die Aljoscha persönlich weiterbrachten, weil er fast wie in einer Therapie Erlebnisse in seiner Kindheit und Jugend aufgearbeitet hat, und die er im Theaterpädagogischen Zentrum in Lingen anwenden konnte. Dort betreute er nach dem Studium zwei Jahre lang eine Theatergruppe aus Schülern und Erwachsenen aus der Lebenshilfe.
Heimweh nach Hall
Nach fünf Jahren zog ihn das Heimweh 2020 zurück nach Hall. Als Theaterpädagoge bei den Freilichtspielen erarbeitet, inszeniert und betreut er nun unter anderem die Stücke des Jugendensembles und des Ensembles20+ – und steht als Oberlippe auf der Bühne.
Weitere Geschichten aus dem Magazin gibt es außerdem unter folgenden Links:
Das Magazin „Next Step“
In Next Step gibt es hilfreiche Tipps und Infos rund um die Themen Ausbildung und Studium in der Region. Larissa Rieß ist der Titelstar der Juli-Ausgabe. Das ausführliche Interview mit der Moderatorin sowie tolle weitere Geschichten gibt es in der gedruckten Ausgabe. Hier geht es zur Online-Version des Magazins.