Wie schön wäre es, einfach mal wieder Zeit zu haben. Zeit, um im Bett zu bleiben, ein Buch zu lesen, die Lieblingsserie zu schauen oder vor sich hin zu träumen. Wer sich nach solchen Freiheiten sehnt, wendet sich am besten an denjenigen, der in erster Linie für die Zeiteinteilung verantwortlich ist. Er oder sie selbst. Denn mit einfachen Übungen, neuen Gewohnheiten und mehr Achtsamkeit können wir lernen, uns Zeit zu nehmen, gut für uns selbst zu sorgen und unsere mentale Gesundheit trotz Arbeitsbelastung, Dauerstress, Leistungsdruck und den Krisen in der Welt zu verbessern. Und das neue Jahr ist der perfekte Zeitpunkt, um damit zu beginnen.
„Count your blessings“, gibt Michaela Merten, Coach für Persönlichkeitsentwicklung und Glückstraining, einen ersten Tipp. In der deutschen Sprache gibt es einen ebenso guten Ausdruck nicht, sagt sie. Aber was es bedeute, sei, dankbar für die vielen Dinge zu sein, die man hat. Wer sich dessen bewusst ist, sie sich vielleicht immer wieder aufschreibt, habe etwas, was er in die Waagschale werfen kann, wenn negative Gefühle überhand zu nehmen drohen. Wenn etwa belastende Nachrichten über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, über die Klimakrise und die Inflation auf uns einprasseln.
Die permanente Überschwemmung mit Negativnachrichten sieht auch Achtsamkeitstrainerin Elke Hausser aus Gaildorf kritisch. Ebenso die dauernde Erreichbarkeit, die Reizüberflutung, den Machbarkeits- und Optimierungswahn sowie die verlorene Fähigkeit, Langeweile beziehungsweise Muse auszuhalten. „Unser Arbeitsstil hat sich in den vergangenen 30 Jahren komplett verändert. Natürliche Pausen fehlen, oft ist nicht mal am Wochenende Zeit zum Ausruhen“, sagt sie. Und für das Multitasking, das über längere Zeit propagiert worden sei, bekämen wir nun die Rechnung. „Die Menschen spüren, dass das Streben nach immer mehr, höher und schneller einen hohen Preis hat. Sie fühlen sich im Dauerstress oder im bekannten Hamsterrad.“
Gesundheitliche Probleme und die Überlastung aus dem Gefühl heraus, Familie und Beruf unter einen Hut bringen und allen gerecht werden zu müssen, hat Kristin Potthoff dazu veranlasst, einen MBSR-Kurs bei Elke Hausser zu belegen. MBSR steht für „Mindfulness Based Stress Reduction“ und bedeutet Stressreduktion durch Achtsamkeit. Es geht darum, den Körper und den Atem spürend wahrzunehmen und sich nach und nach immer mehr im Körper beheimatet zu fühlen; sich also wohlzufühlen in der eigenen Haut.
Für sie wertvolle Impulse halfen Kristin Potthoff dabei, ihren Alltag zu überdenken und umzuplanen. „Für mich ist Achtsamkeit weniger das regelmäßige Meditieren. Ich habe mir das Praktische aus dem Grundkurs und den Vertiefungskursen mitgenommen“, sagt sie. Als Beispiel nennt die 40-Jährige, dass sie die familiären Termine so umorganisiert hat, dass ein Tag in der Woche frei bleibt. Diese Me-Time nutzt sie unter anderem für das Trainieren des so genannten Achtsamkeitsmuskels. Dazu gehören Ratschläge zum Umgang mit Stress und zu mehr Selbstfürsorge, der Austausch in der Gruppe und so genannte Achtsamkeitsübungen. „Allein daheim macht man das ja eher nicht“, glaubt sie, aber bei einem festen Termin in der Woche sei die Motivation hoch.

Die verpassten Augenblicke

Zur Folge hatten die MBSR-Kurse aber auch, dass sie alltägliche Dinge inzwischen sehr viel bewusster wahrnehme und wertschätze. Etwa, wenn sie mit ihren Kindern zusammen Gemüse schnippelt, kocht oder mit ihnen bei Wind und Wetter nach draußen geht. „Ich schaue dann ganz genau hin, was es dort zu entdecken gibt, und wie sich die Natur verändert.“ Kleine Kinder leben nur in der Gegenwart, „wir Erwachsene müssen das oft erst wieder lernen“, ist sie überzeugt. „Denn im Kopf planen wir vielleicht schon das Abendessen und verpassen so, was tatsächlich gerade Schönes passiert. Wir verpassen unser Leben.“
Achtsamkeit beinhaltet also viel mehr als nur, es sich gut gehen zu lassen, wie etwa bei einer entspannenden Massage oder beim Fernsehabend auf der Couch. Natürlich könne man sich in einer achtsamen Haltung auch wohlfühlen, aber das sei nicht das Ziel, sondern eher eine willkommene Nebenwirkung, erläutert Elke Hausser. Neben dem Fokus auf die Gegenwart gehöre auch dazu, „aufmerksam mit unseren Gedanken, Gefühlen und unserem Körper umzugehen und uns selbst und anderen mit einer offenen, wohlwollenden, wertfreien und neugierigen Haltung zu begegnen“. Das versucht Kristin Potthoff nicht nur in der Familie zu beherzigen, sondern auch in ihrem Beruf als Leiterin einer Drogeriemarktfiliale umzusetzen. „Den Mitarbeitern und Kunden lieber erstmal nur zuhören und nicht gleich mit Ratschlägen kommen“, lautet ihr Credo. So bringe man Wertschätzung zum Ausdruck und unterstütze den anderen dabei, seine eigenen Lösungen zu finden.

Das Glück in die Hand nehmen

Als junger Frau gelingt Michaela Merten, wovon viele träumen. Sie bekommt die Hauptrolle in einer Fernsehserie und wird zur beliebten Schauspielerin. Doch trotz des Erfolgs ist sie nicht glücklich und stürzt in eine Sinnkrise. Erst als sie sich mit buddhistischen Schriften, östlichen Philosophien und neurowissenschaftlichen Studien beschäftigt, findet sie zur Meditation und zu neuem Mut (mehr unter michaela-merten.de). Die jahrelange Praxis ist die Grundlage für ihr Buch „Mut zum Glück. Mein Glückstraining für mehr Leichtigkeit im Leben“, das sich an alle wendet, die ihr Glück selbst in die Hand nehmen wollen. Als Coach für Persönlichkeitsentwicklung nennt Michaela Merten alltagstaugliche Praxistipps, die dabei helfen können, stressfreier und damit gesünder zu leben. „Denn unser Körper ist überhaupt nicht eingestellt auf Superstress und die Schnelligkeit des Internetzeitalters“, sagt sie. Damit man ihre Ratschläge beherzigen könne, helfe es ihrer Meinung nach, zu wissen, worin sie begründet sind, also: „Wie tickt das Säugetier Mensch eigentlich?“
Ein Beispiel: „Wie Pferde sind Menschen Fluchttiere“, hat der Filmemacher, Schriftsteller und Philosoph Alexander Ernst Kluge einmal gesagt. Wenn Gefahr droht, schüttet unser Körper Stresshorme wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Alle Organfunktionen, die wir zum Überleben benötigen, werden aktiviert: Die Herzfrequenz nimmt zu, der Blutdruck steigt und wir laufen davon. „Dass der Dauerstress, dem wir heute vielfach ausgesetzt sind, nicht gesund sein kann, erklärt sich von selbst“, erörtert Michaela Merten. Noch dazu laufen wir nicht davon, sondern wir bleiben sitzen – den lieben langen Tag – und auch das ist gegen die menschliche Natur. Daher rührt auch der Spruch „Sitzen ist das neue Rauchen“.
Nicht immer können wir etwas gegen Stress und beruflicher Überbelastung ausrichten. Aber wir können unserem Körper helfen, anders damit umzugehen. Michaela Mertens einfachster Tipp ist, jede Stunde ein Glas stilles Wasser zu trinken. „Stilles Wasser, weil kohlensäurehaltiges den Körper – wie die Stressoren auch – übersäuert.“ Weil Koffein kurzzeitig Stress erzeuge, rät die Expertin, nur morgens und nicht über den ganzen Tag hinweg Kaffee zu trinken.

Niemand ist hinter uns her

Ebenso helfen regelmäßige Pausen. Eine einfache Übung ist laut Michaela Merten folgende: Die Augen schließen, den Kopf in die Hände legen und die Wärme spüren. Durch die Nase ein- und durch den Mund ausatmen. Dabei auf Bauchatmung achten. „Brustatmung führt oft dazu, dass wir die Schultern nach oben ziehen, was unserem Körper signalisiert, wir seien auf der Flucht. Die Bauchatmung sendet die Botschaft: Niemand ist hinter uns her.“
Früher, fährt die Bestsellerautorin fort, hätten die Menschen in die Weite bis zum Horizont geblickt, um zu sehen, ob von irgendwoher ein Angriff droht. „Heute starren wir nur 20 bis 30 Zentimeter bis zum Bildschirm, die Arbeit am PC trocknet unsere Augen aus und das Blaulicht kurz vor der Nachtruhe hindert am Einschlafen.“ Hilfe für gestresste Augen bietet da Michaela Mertens Meinung nach die kostenlose Anwendung „f.lux“. Das Tool soll die Farbwiedergabe des Bildschirmes je nach Tageszeit anpassen und dadurch die Augen schonen. Weitere Tipps sind: am Schreibtisch auf einem Ball sitzen, höchstens zweimal am Tag die Nachrichten hören, pro Woche einen Safttag mit selbst gepresstem, frischen Gemüsesaft einlegen, am Abend fünf Dinge per Hand aufschreiben, wofür man dankbar ist, nicht mit Selbstlob zu sparen und Sport zu treiben.
Mit allen Sinnen in die Stille und Unberührtheit des Waldes einzutauchen und die Heilkraft der Bäume zu spüren – das bedeutet Shinrin-Yoku, japanisch für „Baden im Wald“. Was in Japan als Bestandteil eines gesunden Lebensstils gepriesen wird, findet auch in Deutschland immer mehr Anhänger. „Zu wenig Natur macht krank“, ist Cinzia Faraci aus Kirchberg/Jagst überzeugt, und ihrer Meinung nach sollte jeder die Natur in seinen Alltag integrieren. Selbst geht sie jeden Tag in den Wald. Cinzia Faraci ist Italienerin, hat in Pisa Literaturwissenschaften studiert, im Haller Goethe-Institut Deutsch gelernt und ist heute Resilienz-Coach und Kursleiterin für Waldbaden. „Beim Aufenthalt in der Natur geht es darum, Stress abzubauen, die Gedanken abzuschalten und völlig in die einzigartige Atmosphäre des Waldes einzutauchen. Die Natur ist unser Verbündeter.“
Aber wie geht Waldbaden eigentlich? „Wir schlendern durch den Wald und nehmen nach und nach unsere Umgebung mit allen Sinnen wahr. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten, zum Beispiel die Struktur der Rinde am Baum“, erklärt die Kursleiterin. Dabei fahre quasi unser System herunter und nach etwa eineinhalb bis zwei Stunden spüren die Teilnehmer, wie sich Entspannung einstelle. Diese halte in der Regel zwei bis drei Tage an. „Die Bäume umarmen wir nicht, jedenfalls nicht beim ersten Mal“, räumt sie mit dem Bild auf, das man üblicherweise vom Waldbaden hat. „Wir umarmen die ganze Natur.“ Kurse bietet sie ab 5. Januar monatlich an. Mehr unter cinzia-faraci.com/termine.
Ebenso, wie man im Wald seine Energien wieder auftanken kann, gelingt das übrigens auch am Meer. Einfach mal an den Strand setzen, den Blick bis zum Horizont schweifen lassen und das Brechen der Wellen beobachten – beim nächsten Urlaub einfach mal ausprobieren!
Weitere Geschichten aus dem Magazin „Hohenlohe Trends“ gibt es auf Instagram @hohenlohetrends.

Mehr über das Buch „Mut zum Glück“

„Mut zum Glück. Mein Glückstraining für mehr Leichtigkeit im Leben“ von Michaela Merten ist im Groh Verlag erschienen. Darin erklärt sie anhand fundierter Erkenntnisse aus der positiven Psychologie und neuesten Hirnforschung verschiedene Glücksstrategien. Die Botschaft darin lautet: „Du kannst und darfst glücklich sein! Dein Leben gestaltest du selbst – anhand deiner Gedanken, Gefühle und Handlungen.“

Methoden für mehr Achtsamkeit im Alltag

Achtsamkeitstrainerin Elke Hausser gibt Tipps und sagt auch, wie man herausfindet, welche „Methode“ die individuell richtige ist.

- Mehrmals am Tag innehalten und sich fragen, was mache ich da gerade? Wie geht’s mir damit? Und ist das jetzt wirklich so wichtig?

- Den Tag bewusst mit einer bewegten Körperübung oder einer Atemübung beginnen. In Ruhe eine Tasse Kaffee oder Tee trinken und erst danach die Nachrichten hören oder lesen.

- Wartezeiten nicht als gestohlene, sondern als geschenkte Zeit sehen. Dabei gut atmen, Schultern und Kiefer entspannen.

- Sechsmal täglich fünf Minuten Pause machen und nichts tun.

- Langeweile aushalten lernen und nicht gleich mit dem Handy ausfüllen.

- Sich immer wieder nur auf eine Sache konzentrieren und eines nach dem anderen machen.

- Im Gespräch mit Angehörigen oder Kollegen ganz dabei sein, wirklich zuhören, nicht sofort Lösungen anbieten.

- Beim Spazierengehen oder Joggen nicht über Probleme grübeln, sondern Natur und Körper spüren.

- Immer mal wieder neue Wege gehen und etwas Neues ausprobieren.

- Die alltäglichen und vielleicht langweiligen Dinge als Achtsamkeitsübung begreifen.

Die richtige Methode findet man heraus, indem man viel ausprobiert und sich fragt: Passt das für mich oder nicht? Nicht das, was die anderen sagen, ist richtig, sondern das, was für die Person stimmig ist. Auch da bedarf es der Offenheit und der Neugierde. Denn viel zu schnell sind wir dabei, zu sagen: Das ist nichts für mich, das weiß ich schon.