Im Jahr 1994 schlägt im Tierpark Hellabrunn in München das Ornithologenschicksal zu: Markus Unsöld begegnet einem Waldrapp. Er sei damals auf diesen Vogel „geprägt worden“ flachst der aus Fichtenberg stammende Biologe 23 Jahre später in der Sendung „Habe die Ehre“ des Bayreischen Rundfunks. Dann erklärt er dem explizit bayerisch sprechenden Moderator sanft schwäbelnd, das das gänsegroße „liabe Viecherl“ mit dem Kahlkopf, den orangefarbenen Augen, dem langen, gebogenen Schnabel und dem Punk-Gefieder eben nicht nur putzig und liebenswert ist, sondern in den letzten Jahren auch allerlei ausgelöst hat: Erkenntnisse und Fragen in der Verhaltens- und der Geschichtsforschung beispielsweise, ein von der EU gefördertes Wiederansiedlungsprojekt, Steinadlerangriffe – und nebenbei wurde auch noch einem Wilderer das Handwerk gelegt.
Unsöld gehört seit 2003 dem Wald­rappteam an, das der Verhaltensforscher Johannes Fritz an der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau in Oberösterreich gegründet hat. Dort hatte man Ende der 1990er-Jahre einige Nachzuchtexemplare aus Zoos geholt, um das Sozialverhalten der Vögel zu erforschen – und entdeckte ihren Zugtrieb: Alljährlich im August verschwanden die Vögel in alle Himmelsrichtungen. Einer wurde im 1200 Kilometer entfernten Kaliningrad entdeckt, er war erfroren. Offenbar kannten die Vögel den Weg nach Süden nicht.

Impulse aus dem Kino

Die Idee, sie wieder auf die Spur zu bringen, entstand im Kino: Fritz schaute sich den Film „Amy und die Wildgänse“ an, in dem von Menschen aufgezogene Wildgänsen per Ultraleichtflugzeug der Weg in den Süden gezeigt wird. Sein Team verfährt seitdem ähnlich: Die Jungvögel werden kurz nach dem Schlüpfen auf Menschen geprägt und im Spätsommer von ihren Zieheltern mit Ultraleichtflugzeugen über die Alpen nach Süden geleitet. Der einfache Weg genügt; zurück finden die Tiere selbst, und sie sind dann auch in der Lage, ihrem Nachwuchs den Weg ins WWF-Schutzgebiet Oasi Laguna di Orbetella in der Toskana zu zeigen.
Seit 2002 läuft das Projekt, das 2014 in das LIFE+-Programm der Europäischen Union aufgenommen wurde. Zwölf Mal führten die Wissenschaftler seitdem Wald­rappgruppen in den Süden, zwei Mal  hat auch Unsöld den Ziehvater im Fluggerät gespielt.  „Unvergessliche Momente“  seien das gewesen, berichtet er.  Und trotz massiver Verluste ist es mittlerweile gelungen, zwei stabile Wald­rappkolonien zu etablieren: in Burghausen in Bayern und in Kuchl bei Salzburg. Auch in der Gartenschaustadt Überlingen am Bodensee dürfte die Ansiedlung gelingen.  Von den 31 Waldrappen, die in Überlingen aufgezogen wurden, trafen 30 Anfang September mit ihren menschlichen Begleitern im Winterquartier ein, der 31. war an verschluckten Metallteilen eingegangen (wir haben berichtet).

Große Schäden durch Wilderei

So glimpflich ging’s nicht immer ab. In den Projektjahren vor der Aufnahme in das LIFE+-Programm waren etwa 70 Todesfälle zu verzeichnen, 30 davon wahrscheinlich durch Wilderei verursacht. Zwischenzeitlich sind die Tiere mit GPS-Sendern ausgestattet, die es ermöglichen, ihren jeweiligen Aufenthalt genau zu ermitteln. Bereits 2012 konnte so ein Jäger ermittelt werden, der zwei Waldrappe geschossen hatte. Er verlor seine Jagdlizenz und wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 2000 Euro verurteilt. Ein zivilrechtliches Verfahren steht noch aus. 2016 wurden fünf Vögel abgeschossen. Das Waldrappteam beziffert den Schaden für das Projekt auf etwa  230 000 Euro.
Neuerdings gibt’s Bodenunterstützung: Entlang der Flugroute wachen Freiwillige. „Dead Body Indicators“, die sich unmittelbar nach dem Abschuss melden, sollen diese „Taskforces“ künftig in kürzester Zeit zum Tatort führen. Die italienische Nichtregierungsorganisation „Ente Nazionale Protezione Animali“ ist ebenso beteiligt wie der Jagdverband „Federazione Italiana della Caccia“.
Unsöld fliegt nicht mehr. Seine Zusammenarbeit mit Fritz mündete in eine Kooperation zwischen der Zoologischen Staatssammlung in München, in der er als Kurator der Sektion Ornithologie arbeitet, und dem Waldrappteam. Der 45-Jährige  ist nun beratend und als Mit-Autor von Fritz tätig.  „Wir sind derzeit wohl die Arbeitsgruppe mit dem meisten praktischen Wissen über den Waldrapp“, sagt Unsöld.
Neben der Wiederansiedlung wird mit den Waldrappen auch Forschung betrieben: Während der menschengeführten Migration werden regelmäßig Daten zur Grundlagenforschung zum V-Formationsflug und zu physiologischen Anpassungen von Zugvögeln erhoben und veröffentlicht. Immer wieder spannend, sagt Unsöld, seien auch die Flüge. Dieses Jahr habe es neben den üblichen Wettersperenzchen auch zwei Steinadlerangriffe in den Alpen gegeben. Sie seien aber glücklicherweise folgenlos geblieben.

Im Mittelalter ein „Schleck“

In Europa gibt’s den Waldrapp schon lange nicht mehr. In Deutschland ist er im 17. Jahrhundert verschwunden, wenige Jahrzehnte nachdem ihn der Schweizer Naturforscher Conrad Gesner (1516 – 1565) als „Schleck“ , also als Leckerbissen, beschrieben hatte – Hauptursache seines Verschwindens war Übernutzung der Bestände.  Gesner, der „Vater der modernen Zoologie“,  hat freilich keine Rezepte hinterlassen, sondern Beschreibungen, eine Abbildung und Koloniestandorte. Dass der „Northern Bald Ibis“, so die offizielle Bezeichnung des Waldrapps, den irreführenden  lateinischen Namen Geronticus eremiticus, greisenhafter Einsiedler,  trägt, ist dem  schwedischen Naturforscher Carl von Linné  zu verdanken: Er hatte Gesner falsch interpretiert.
Die Tiere, mit denen das Waldrappteam heute arbeitet, stammen aus der Nachzucht, es handelt sich um Nachkommen längst erloschener Kolonien im marokkanischen Atlasgebirge. Diese Tiere mussten Zugverhalten zeigen, um im Winter überleben zu können, sagt Unsöld. Er betont das nicht ohne Grund, denn es besteht Verwechslungsgefahr. In Marokko hat an der Westküste auch die weltweit letzte Ppopulation überlebt. Diese etwa 500 Vögel gelten bei manchen Fachleuten als nichtziehend, weshalb das Waldrapp-Projekt immer wieder  für die Verwendung  marokkanischer Vögel  ohne Zugverhalten, also quasi als Umerziehungsmaßnahme kritisiert wird.
Auch die historische Quellenlage bietet Anlass zur Kritik: Das Bild vom einst in ganz Europa verbreiteten Waldrapp beruhe auf Spekulationen und Wunschdenken. Was genau diese Gegner der Wiederansiedlung störe, sei ihm bisher nicht  klar geworden, meint Unsöld. Das Projekt habe immerhin eine sehr kritische Vorauswahl durchlaufen, ehe es 2014 als zweitbester von 1159 Projektanträgen in das LIFE+-Programm übernommen wurde. Hinzu komme, dass es einer der am stärksten bedrohten Vogelarten der Welt wieder auf die Beine helfe, ohne Konflikte auszulösen: weder Landwirten, noch Jägern oder Anglern entstünde Konkurrenz, im Gegenteil: weil der Waldrapp vor allem nach Larven, Würmern und Insekten im Boden suche, sei er vor allem ein „Nützling“.

Nachtkrabb reloaded?

Ein Kinderschreck ist der Waldrapp hingegen eher nicht. Bei der Murrhardter  Narrenzunft „Murreder Henderwäldler“ , die auch ein entsprechendes „Häs“ verwendet, hält man ihn für das Vorbild des Nachtkrabbs, mit dem heute noch Kinder erschreckt werden.  „Der Waldrapp bewohnte einst die Wälder und Felshänge rund um Murrhardt. Ähnlich einer Eule, ist er ein dämmerungsaktiver Vogel, deshalb hat er auch in alten Zeiten den Namen Nachtkrabb bekommen“, heißt es auf der Homepage der „Henderwäldler“, und das, meint Unsöld, sei kompletter Unfug.
Anders als der Name suggeriere meide der Waldrapp die Wälder, er schätze nicht einmal hohes Gras, und dämmerungsaktiv sei er schon gar nicht. Auch in dem historischen Fresko im Murrhardter Kloster, das gerne als Nachweis für ein historisches Vorkommen verwendet wird, kann Unsöld den Waldrapp beim besten Willen nicht erkennen. Der echte Nachtkrabb sei vermutlich der sehr seltene Nachtreiher Nycticorax nycticorax, der die Nacht und den Raben gleich doppelt im Namen führe, und dessen unheimlicher nächtlicher Ruf nur noch an manchen Orten rund um Stuttgart zu hören ist.