Mit 20 werde er blind sein, prophezeiten die Ärzte, als Hermann Beddigs geboren wurde. Das linke Auge war von Anfang an funktionsuntüchtig. Das rechte hatte eine Sehkraft von nur 50 Prozent, dazu ein eingeschränktes Gesichtsfeld.
Heute ist Beddigs ganz blind, aber er konnte noch lange sehen. „Ich hatte mit 54 Jahren noch eine Hornhauttransplantation und konnte zunächst sogar wieder lesen“, berichtet der Physiotherapeut. Seit 1998 ist Beddigs blind, und im Jahr 2010 blieb auch noch die letzte Lichtwahrnehmung aus.
„Da habe ich eine Nacht lang geweint wie ein kleines Kind. Aber am nächsten Tag habe ich mir gesagt, ich wusste ja, dass es eines Tages so kommen würde. Dann habe ich mich wieder aufgerappelt.“ Das war die zweite depressive Phase in Beddigs Leben. Die erste kam in jungen Jahren. Sein linkes Auge sah schlimm aus. Beddigs wusste, dass andere ihn als hässlich wahrnahmen. „Und ich war mitten in der Pubertät! Als der Arzt mir vorschlug, das Auge zu entfernen, habe ich sofort zugestimmt.“
In wenigen Wochen wird auch das rechte Auge durch eine Prothese ersetzt. „Ich habe zu meinem Arzt gesagt: Ich möchte dann so Augen wie Terence Hill. So lange ich sehen konnte, habe ich blaue Augen geliebt.“ Da kommt die humorvolle Seite von Hermann Beddigs durch. Er wirkt heute heiter.
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„Die Leute müssten viel mehr flirten“, meint er beispielsweise. „Das verbessert die Laune und ist gut fürs Selbstwertgefühl. Deshalb gehe ich auch so gerne alleine einkaufen.“ Wenn ihn dann eine Dame anspricht, nimmt er angebotene Hilfe auch an, wenn er sie eigentlich nicht bräuchte. „Das ist auch Anerkennung der Hilfsbereitschaft.“ Und dann geht er manchmal mit der Dame noch einen Kaffee trinken und flirtet ein bisschen – bis jeder wohlgelaunt wieder seiner Wege geht.
Weitergehende Absichten hat Beddigs nicht, denn er ist glücklich verheiratet. Mit seiner Frau und weiteren Kollegen betreibt er in Stuttgart eine Physiotherapie-Praxis. Und auch zu Hause teilen sich die beiden die Arbeit: „Beim Bügeln kann ich ein Hörbuch hören.“ Im Haushalt gibt es viele Geräte mit Sprachsteuerung. „Sogar mein Fieberthermometer spricht mit mir“, flachst Beddigs.
Überhaupt ist er froh über technische Hilfen. Kürzlich hat er ein neues Vorlesegerät bekommen. Und sein Smartphone ist für ihn ebenso wichtig wie sein Führhund. „Wenn ich in Hessental in den Zug steige, frage ich gleich die Bahn-App, ob am Bahnhof Stuttgart der Aufzug funktioniert. Wenn nicht, rufe ich an, dass ich Hilfe brauche.“ Denn wenn er nicht die gewohnten Wege gehen kann, kennt sein Hund sich nicht genug aus.
Beddigs hat auch eine App, die sich seine Spaziergänge merkt. In ihr kann er auch notieren, wo eine Sitzbank oder ein Papierkorb ist. So kann er mit seinen beiden Hunden große Runden drehen.
Problematisch ist für Blinde der Tag-Nacht-Rhythmus. Ihn bekommt Beddigs nur mit einem leichten Schlafmittel in den Griff.
Trotz mancher Alltagsprobleme meint Beddigs: „Das Schicksal hat es doch gut gemeint mit mir.“ Denn er lebt noch. Vier seiner Brüder sind an einer ererbten Gefäßschwäche gestorben, ihm haben Bypässe das Leben gerettet. Und dann war da noch der Fahrradunfall: „16-Jähriger tödlich verunglückt, stand im Polizeibericht. Aber nach zwei Wochen war ich wieder aus der Klinik raus.“
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Seine positive Lebenseinstellung möchte er gerne weitergeben. Deshalb engagiert er sich im Blinden- und Sehbehindertenverband und betreibt in Hall die Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“. Dort informiert er Betroffene, welche Reha-Möglichkeiten und Hilfsmittel es gibt und wer sie finanziert. Zudem möchte er Menschen, die den Schock erleben, zu erfahren, dass sie erblinden werden, empathisch begleiten und ihnen die Angst vor der Zukunft nehmen – er hat auch eine psychotherapeutische Ausbildung.
Der Gedanke an den Ruhestand ist für Beddigs „ein Alptraum“: „Ich kann ja nicht das Haus renovieren oder Fahrradtouren machen“, sagt er. Auch deshalb engagiert er sich gern.

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Schwäbisch Hall ist der 15. Wohnort

Hermann Beddigs wurde am 23. September 1952 in Alzdorf bei Aachen geboren – als sechstes von acht Kindern. Nach der Schule begann er eine Bäckerlehre. Eine Krankenschwester, die sich nach 16 Jahren noch an das schwerkranke Baby erinnerte, überzeugte ihn davon, dass er einen anderen Beruf ergreifen sollte. Er wurde Masseur, mit 44 zudem Physiotherapeut.
15 Wohnorte hatte Beddigs – seit 1998 lebt er in Schwäbisch Hall. Er war Physiotherapeut am Diakonie-Klinikum, dann Geschäftsführer einer GmbH, die am Diak gegründet wurde. Seit 2007 ist er Teilhaber einer Praxis in Stuttgart.
Beddigs ist verheiratet. Er hat keine Kinder, aber seine Frau hat vier Kinder und 17 Enkel.
Info Die Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ befindet sich in der Marktstraße 10 in Hall. Sie ist erreichbar unter Telefon 07 91 / 97 80 68 48 (AB). Der Blinden- und Sehbehindertenverband bietet auch Veranstaltungen an. Am kommenden Freitag, findet ein Ausflug zum Bienenlehrpfad am Starkholzbacher See statt. Treffpunkt ist um 16.30 Uhr an der Gipsmühle. Am 30. November gibt es eine Adventsfeier Live-Jazz.