Für Frank Müller läuft alles bestens. Welche Wegstrecke der schlanke Mann mit den freundlichen, braunen Augen schon auf seinen flotten Schuhen zurückgelegt hat, seit er vor 17 Jahren mit dem Lauftraining und den Wettkämpfen begann, weiß keiner. Sicher ist nur: Am 13. August sind nochmal 100 Meilen oder 161,8 Kilometer dazu gekommen. Als einer von 374 Teilnehmern des Mauerweglaufs in Berlin erreicht er das Ziel um 4.30 Uhr morgens, nachdem er 22 Stunden, 36 Minuten und 46 Sekunden fast ohne Pause unterwegs war. Mit dieser Leistung landet der 53-jährige Schwäbisch Haller auf einem schönen, runden Platz Nummer 100.
„Ich hab am Vortag des Laufes die Gedenkstätte in der Bernauer Straße besucht und dort die Tafel mit den Namen der Fluchtopfer gesehen“, berichtet Müller, „und da dachte ich mir: Diese Menschen haben Unsägliches erlitten, da wirst du ja wohl noch 160 Kilometer laufen können.“

Läufer legen Blumen ab

Jedes Jahr ist der Rundlauf entlang der ehemaligen Berliner Mauer einem anderen Opfer der rigiden Grenzpolitik gewidmet. Diesmal starteten die Läufer zu Ehren der 21-jährigen Dorit Schmiel, die 1962 bei ihrem Fluchtversuch von DDR-Grenzposten getötet wurde. „Entlang der Laufstrecke gab es mehrere Gedenkstellen, an denen die Läufer kurz innegehalten haben. An dem Ort, wo sich das Drama damals abspielte, haben wir rote Rosen niedergelegt.“
Es war der außergewöhnlichste Lauf, den Müller, der in seinem Alltagsleben ein Geschäft für Augenoptik und Hörgeräteakustik in Künzelsau führt, bisher absolviert hat. Seine bewegte Leidenschaft entdeckte er 2001: „Ich erzählte allen meinen Freunden, dass ich in eineinhalb Jahren beim Berlin-Marathon einer der 30.000 Läufer sein will, um mich selbst in Zugzwang zu bringen.“
Danach konnte er nicht mehr stehen bleiben. Bis 2013 hatte er an 30 Läufen über die klassische Marathon-Distanz von 42 Kilometern in ganz Deutschland, Österreich und Luxemburg teilgenommen. Zu seinem 50. Geburtstag gönnte er sich etwas richtig Gutes: Einen gepflegten 100-Kilometer-Lauf im schweizerischen Biel. Ein weiteres Leckerli folgte mit dem weltweit größten Wettkampf auf der Triathlon-Langdistanz im mittelfränkischen Roth: „3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Fahrradfahren und 42 Kilometer Laufen.“
Die geschichtsträchtige Strecke durch Berlin war ein Ziel, auf das Müller lange hingearbeitet hat. Da reichte es dann nicht mehr, dreimal in der Woche von der Haller Innenstadt bis Untermünkheim und zurück zu rennen. Die Wochenenden vor dem Start verbrachte Müller mit jeweils insgesamt zehn Stunden Dauertraining.
Als er am 12. August um 6 Uhr in Berlin losläuft, regnet es in Strömen, und das bleibt sechs Stunden lang so, bis Müller beim ersten „Boxenstop“ nicht die Reifen, aber die Laufschuhe wechselt. Das dritte Reservepaar kommt nicht zum Einsatz, denn irgendwann weiß er: „Wenn ich jetzt eine Pause mache, kann ich nicht mehr weiter.“ An 27 Verpflegungspunkten verhätscheln freiwillige Helfer die Läufer mit salzigen Griebenschmalzbroten und allem anderen, was normalerweise dick macht. „Doch irgendwann kriegt man nichts mehr runter, nicht mal mehr einen Schluck Wasser.“ Die Strecke ist nicht abgesperrt und wird nicht von jubelnden Zuschauern gesäumt. Der seltsamste Moment: „Es ist skurril, nachts um 2 Uhr an der East-Side mit 140 Kilometer in den Schuhen am feiernden Partyvolk vorbeizulaufen.“
106 der 374 Teilnehmer schaffen es nicht bis zum Ziel im Stadtteil Prenzlauer Berg, zwei werden disqualifiziert: „Einer, weil er über eine rote Ampel gelaufen ist, der andere, weil er im Stadtgebiet über seine Ohrstöpsel Musik hörte, was beides als Verkehrsgefährdung gilt.“ Müller setzt die Kopfhörer vorsichtshalber gar nicht erst auf, obwohl er sich extra für den Lauf „The Wall“ von Pink Floyd auf die Playlist gesetzt hatte. Sieger wird der 59-jährige Niederländer Jan-Alberg Lantink, der die Strecke in unglaublichen 13:39:56 Stunden schafft – rund neun Stunden schneller als Frank Müller. Der älteste Teilnehmer, der die Strecke erfolgreich bewältigt, ist 77 Jahre alt und eine Frau.

Sport statt Expansion der Läden

Frank Müller wurde 1964 in Künzelsau geboren. Nach seinem Studium in München und Aufenthalten in Lübeck und Bonn übernahm er das Augenoptikergeschäft seiner Eltern in Künzelsau und erweitert das Angebot um den Bereich Hörgeräteakustik. Müller eröffnete Filialen in Michelfeld, Öhringen und Ellwangen. „Ich hatte nur noch die Wahl, mich noch mehr zu vergrößern, oder mich auf ein Geschäft zu konzentrieren“, sagt er. Seiner Gesundheit zuliebe entschied er sich für letzteres. Frank Müller ist verheiratet und lebt seit 16 Jahren in Hall.