„Heimat weit“ – warum? „So viele sind auf der Flucht“, begründete Initiatorin Ute Kleeberg das Motto des Abends. Ihre Frage „Was bedeutet Heimat für mich?“ führte zu einer handverlesenen Auswahl von Texten, die von Claudia Michelsen und Hanns Zischler im Wechsel vorgetragen wurden; beide sind gefragte und vielfach ausgezeichnete Schauspieler, die – was nicht selbstverständlich ist – auch als Vorleser Vorzügliches leisten.
Als Solist für die Zwischenmusiken wurde kurzfristig der Cellist Samuel Lutzker als Einspringer für die (Mutterfreuden entgegen sehende) Konstanze von Gutzeit gewonnen; „kein Ersatz, sondern eine Entdeckung“, so Uwe Stoffel.
Stimmt – so leichtfüßig und zugleich durchdacht hört man Bachs Cellomusik selten. Samuel Lutzker interpretierte die Einzelsätze aus den Suiten nicht als Kraftakte, sondern brachte sie wie selbstverständlich zum Sprechen. Den herausgehobenen tänzerischen Charakter und die virtuosen Höhenflüge verband er mit der analytisch erarbeiteten Strukturierung, die dem Hörer erst das Verständnis ermöglicht. Ein Erlebnis! auch wenn mancher sich fragen mochte, was diese Musik mit dem Motto des Abends zu tun hatte. Vielleicht war’s der innere Wert als Kulturgut der Welt?
Das Text- und Musikprogramm gruppierte sich quasi symmetrisch um eine kurze Pause. Auf Zwischenapplaus wurde erfreulicherweise verzichtet, so dass sich die gedankliche Intensität in einem großen Spannungsbogen halten konnte. Dass die Reihenfolge im zweiten Teil durcheinander geriet, wurde von den beiden Lesern geschickt überspielt. Ihnen gelang es, die Lauschenden in den Bann der Texte zu ziehen, indem sie zwischen den Zeilen mitfühlten und mitdachten und sie so minutiös wie natürlich vermittelten. Grenzen fand dies allerdings bei der Lyrik von Hilde Domin; die liest man besser im Stillen.
Die Textauswahl konnte man als vielseitig bezeichnen; ausgespart wurde das weite Feld der Heimatliteratur. Kein Heimatdichter, kein Heimatlied, keine Heimatvertriebenen (jeder Fünfte stammt von ihnen ab). Friedrich Hölderlin wuchs zwar in Nürtingen auf, sein Fluchtpunkt jedoch war die Antike, wie in „Der Neckar“ zu erleben war. Überhaupt beschrieben die gelesenen Texte, wie im Titel konzipiert, vor allem die Überschreitung der heimatlichen Enge – René Schickele weitet den Blick vom Schwarzwald bis Avignon –, teils freiwillig, teils auf der Flucht, dem Weg ins Exil.

Blick in die Weite

Authentisch und nah die Rede von Stefan Zweig 1936 an Brasilien und Theodor Storms Gedicht „Die Stadt“, fiktional, doch einfühlsam die Auszüge aus den Romanen von Ursula Krechel und Barbara Honigmann, die den Leser/Hörer in die Lage von Entwurzelten versetzen: jüdischen Emigranten bei der Ankunft in Shanghai, arabischen Jüdinnen in Frankreich.
Der Blick ging am Ende nochmals ins Weite. Hölderlins Gedicht „Die Liebe“ überwand die Grenzen des Themas hin zur inneren Heimat aller Menschen, und eine darauffolgende Botschaft aus Bild und Musik ging über den Rahmen der musikalisch-literarischen Salons hinaus: An der Stirnwand des Saals leuchtete im Dunkel der blaue Planet, als Heimat im Weltall und als weitest gefasste Darstellung des Mottos „Heimat weit“, begleitet von Bachs Musik im Gesang des Cellos. Susanne Eckstein