Das Erfreuliche zuerst: Die Feinstaub-Grenzwerte wurden in Reutlingen in den zurückliegenden drei Jahren eingehalten, es gab keine Überschreitungen mehr, wie Dietmar Enkel vom Regierungspräsidium (RP) Tübingen am Mittwochabend den Anwesenden im gut gefüllten Spitalhofsaal berichtete. Aber: Die Stickstoffdioxid-Werte (NO2) seien seit 2010 jedes Jahr überschritten worden, so Enkel. Und: „Die Gerichte haben dem Gesundheitsschutz eine überragende Bedeutung beigemessen.“
Der Scheibengipfeltunnel, der noch in diesem Jahr eröffnet werden soll, sei nach den Worten von Christoph Erdmenger vom baden-württembergischen Verkehrsministerium „ein richtiger Glücksfall“ – weil andere Städte mit viel zu hoher Feinstaub- und Stickstoffoxid-Belastung (wie Stuttgart etwa) nicht auf solche Entlastung bauen könnten. Dennoch ist jetzt schon klar, dass auch nach der Öffnung des Tunnels die NO2-Grenzwerte in Reutlingen nicht eingehalten werden. Es gebe in der Achalmstadt nun mal genauso wenig wie andernorts „einen Knopf, den man umlegen könnte, oder einen vorschraubbaren Filter und die Luft würde besser“, bekannte Erdmenger.
Baubürgermeisterin Ulrike Hotz regte eine „intelligente Verkehrssteuerung in der Lederstraße an, ohne die angrenzenden Gebiete zu belasten“. Einzelne Maßnahmen allein würden aber nicht helfen, ein ganzes Maßnahmenpaket sei notwendig, so Hotz. Die Regionalstadtbahn gehöre ebenso dazu wie Carsharing, die Förderung von Elektromobilität, von Rad- und Fußgängerverkehr, eine angedachte Nahverkehrsabgabe, City-Logistik und anderes mehr.
Allerdings habe einzig die Umgestaltung der Lederstraße eine „hohe Wirksamkeit“. Und gleichzeitig eine „hohe Machbarkeit“, wie Dr. Christiane Schneider vom beauftragten Fachingenieurbüro Aviso ausführte. Viele der anderen Maßnahmen würden zwar schnell wirken, wären aber kaum oder nur sehr schwer durchzusetzen, wie etwa ein Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge, eine Blaue Umweltzone oder eine City-Maut, so Schneider. Hinzu komme: „Die Zeit drängt, bis September muss die Fortschreibung des Luftreinhalteplans stehen.“
Die Fachleute von Stadt, Regierungspräsidium und Verkehrsministerium zeigten sich dennoch zuversichtlich, dieses Vorhaben rechtzeitig umsetzen zu können. Und das auch, weil sich alle entschlossen hätten, die Öffentlichkeit mit in den Prozess einzubeziehen. Modellcharakter habe das, betonte Ute Maier vom RP Tübingen. „Kern der Beteiligung ist eine ‚Spurgruppe‘ mit 20 Mitgliedern aus dem öffentlichen Leben.“ Auch diese Gruppe habe sich in den zurückliegenden Monaten schon intensiv Gedanken über „Szenarien für die schnellstmögliche Einhaltung der Grenzwerte gemacht“, so Maier.
Der gesamte Prozess zur „Modellstadt Reutlingen“ sei noch nicht abgeschlossen, einige Maßnahmen aber bereits auf den Weg gebracht, wie etwa das Stadtbuskonzept, betonte Hotz. Die Stadt werde aber noch vor und nach der Tunnelöffnung Verkehrszählungen anstellen, wie die Bürgermeisterin und Stefan Dvorak von Stadtseite betonten. „Bisher sind wir davon ausgegangen, dass rund 24 000 Fahrzeuge pro Tag durch den Scheibengipfeltunnel fahren werden“, sagte Hotz. Die Fachbüros gingen aber 30 000 Kraftfahrzeugen pro Tag aus. Ein zusätzlicher Teil an diesem Abend war der Information an fünf Ständen zu unterschiedlichen Themen vorbehalten. Etwa zu den Verursachern der Luftbelastung in Reutlingen. Oder zu Gegenmaßnahmen sowie zu momentanen Trendentwicklungen (Blaue Plakette und Diesel-Fahrzeugverbote in Stuttgart). Stimmen, die geäußert wurden: Einen Bürger sorgte der neue Container-Bahnhof in Reutlingen, der würde doch mehr Lkw-Verkehr hervorbringen. Ein sorgsamerer Umgang mit Grünflächen wurde von einem anderen Bürger angemahnt. Oder auch Fahrgemeinschaften angeregt, um in die Stadt zu kommen.
Verkehrszusammensetzung in Reutlingen
Nur zwölf Prozent des gesamten Fahrzeugverkehrs in Reutlingen besteht nach den Angaben der Stadt aus Durchgangsverkehr. Diese 47 000 Fahrzeuge würden ergänzt durch 160 000 Kraftfahrzeuge (42 Prozent), die nach Reutlingen ein- und ausfahren (Quell- und Zielverkehr). Hinzu kämen mit 177 000 Fahrzeugen weitere 46 Prozent – die Reutlinger selbst sorgen also für fast die Hälfte des gesamten Verkehrs in der Stadt. Und damit sind Konzepte gefragt, die diesen „Binnenverkehr“ einschränken. Wie etwa Regionalstadtbahn, neues Stadtbusnetz, Stärkung des Rad- und Fußgängerverkehrs. Und noch einiges mehr, um die Stickstoffdioxid-Grenzwerte einzuhalten. nol