Annika Koppold (21) aus Senden hat diese Kurzgeschichte geschrieben:


Hochmut kommt vor dem Fall

Es war noch dunkel, als sie den Ruf vernahmen. Ein Adler, der Botschafter und Kurier des Königs, flog über Wälder, Steppen und Berge, um eine Botschaft an alle Tiere zu überbringen. Und so schrie er seine Botschaft über die Länder: „Der König aller Tiere wurde herausgefordert. Morgen zur dunkelsten Stunde der Nacht fordert Brutus Schwarzbär den ersten König aller Könige, Beherrscher über die Tiere und Mächtigster unter der Sonne, den großen König Liones, zum Kampf um die Vorherrschaft über alle Geschöpfe heraus.“ Es sollen sich alle Geschöpfe zusammenfinden, um diesem Kampf beizuwohnen und zu richten.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Tieren. So kam es, dass in der nächsten Nacht alle Tiere zusammenkamen, um dem Kampf beizuwohnen, keiner wollte den Kampf verpassen. Die Gerüchteküche war bereits am Brodeln, überall grollten, wieherten, tschilpten die Tiere und diskutierten die Neuigkeiten. „Brutus hat keine Chance. Es weiß doch jeder, dass König Liones der Stärkste ist und jeden tötet, der seinen Anspruch als Mächtigster und Stärkster in Frage stellt“, piepste eine kleine Wühlmaus. „Aber Brutus ist der stärkste und fieseste aller Bären, er hat durchaus eine Chance. Außerdem ist Liones schon seit Jahren nicht mehr herausgefordert worden, er ist fett und faul geworden“, knurrte ein Eisbär.
Solche Gespräche hörte man überall in der Menge, alle rätselten über die Chancen des großen Bären, der Liones herausgefordert hatte. Auf einmal ertönte ein gewaltiges Brüllen von der einen Seite der großen Arena, die man extra für diesen Zweck von Maulwürfen und Elefanten hatte ausheben lassen. Ein riesiger Löwe war von einem Felsen gesprungen und direkt in der Arena gelandet. Seine Augen schienen zu glühen, von seinen Reißzähnen tropfte noch das Blut seiner letzten Beute und über sein Fell zogen sich alte Kampfnarben. Erneut brüllte er in die Menge: „Wo ist dieser unglückliche Thor, der es gewagt hat, meine Erhabenheit und meine Stellung herauszufordern, wer von euch hat es gewagt?“
Um die Arena herum herrschte mit einem Mal Totenstille. Auf wen die Augen des Königs fielen, der versuchte, sich so klein und unsichtbar wie möglich zu machen, um diesem starrenden Blick zu entgehen. Niemand rührte sich. Bis auf einmal auf der anderen Seite der Arena die Menge in Bewegung geriet, um einer massiven Gestalt Platz zu machen, die nun die Schaufläche betrat. Brutus Schwarzbär war eine schauerliche Gestalt, übersät von Kampfnarben, hatte er nur noch ein funktionierendes Auge. Das andere, so munkelte man, hätte er bereits als kleines Bärenjunges verloren, als er einem anderen Raubtier, das versucht hatte ihn zu fressen, die Kehle herausgebissen hatte.
„Wer es wagt? Ich wage es. Ich, Brutus Schwarzbär, fordere dich heraus, um deine Stellung im Reich der Tiere, eine Stellung über allen anderen, in einem Kampf bis zum Tod.“ Die Stimme des Bären bestand aus einem heißeren Knurren, das allen Anwesenden einen Schauer über den Rücken jagte. Über das Gesicht des Königs zuckte kurz etwas wie Abscheu, doch er trat vor und knurrte: „So soll es sein.“
Für einen kurzen Moment herrschte Stille, die beiden Konkurrenten maßen sich ab und umkreisten sich, bis der Löwe schließlich mit einem Brüllen vorsprang, um dem Bären direkt an die Kehle zu gehen. Brüllend und fauchend verkeilten sich die beiden ineinander, bissen einander Stücke aus den Leibern und droschen mit ihren gewaltigen Klauen aufeinander ein. Schon nach kurzer Zeit waren beide blutgetränkt.
So rangen sie miteinander für lange Zeit, bis es Liones irgendwann gelang, Brutus an der Kehle zu packen, er schüttelte ihn und riss ihm das Fleisch vom Körper, bis der mächtige Leib des Bären schon bald nur noch zuckte. Da ließ er ihn fallen und brüllte seinen Triumph heraus. „Ich, Liones, habe gesiegt, ihr alle habt mir nun euren Tribut und eure Ehrerbietung zu entrichten, denn ich bin der rechtmäßige König“, so sprach er und stolzierte in der Arena umher.
In der Menge kam ein Raunen auf. „Was ist“, brüllte der König. „Wagt es etwa noch jemand, sich mir, dem Besten, dem Größten und dem Stärksten, zu widersetzen?“ Doch er bekam keine Antwort, die Menge starrte voller Staunen auf den Bären, den man schon tot geglaubt hatte, der sich nun jedoch wieder aufgerichtet hatte und den König der Tiere von hinten anfiel. Ein Schmerzensschrei ertönte und die beiden nun wieder ineinander verbissenen Tiere, wirbelten so viel Staub auf, dass außerhalb der Arena nichts mehr zu sehen war. Als sich der Staub wieder legte, lagen zwei große Körper regungslos und mit zerschmetterten Gliedern in der Arena.
Und so kam es, dass es seitdem keinen König der Tiere mehr gab und auch nie mehr geben würde. Die Menge zerstreute sich und ein jeder ging zurück in seine Gefilde. Und schon bald waren die Namen der beiden einst so mächtigen Tiere vergessen und ihre Leiber zu Staub zerfallen, sodass nichts mehr je an sie erinnerte.