Joe und Farino sind Trainer für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche. Sie unterrichten auf der Koppel oder im Stall. Das ist naheliegend: Joe ist ein 22-jähriger Irish Tinker, Farino ein neunjähriges Classic Pony. Sie gehören der Lehrerin Belinda Blessing, die in Bermaringen „pferdestarke Deutschnachhilfe“ anbietet.
Belinda Blessing kommt aus Ulm, hat am Schubart-Gymnasium Abitur gemacht und in Augsburg Lehramt studiert. Sie unterrichtet an der Neu-Ulmer Christoph-Probst-Realschule Deutsch und Religion. An einer Realschule nehme man bei den Jugendlichen in einer Lebensphase mit riesiger Entwicklung Anteil, das gefällt der 39-jährigen Lehrerin: „Ich liebe meinen Beruf.“
„Wenn ich 28 Kinder in der Klasse habe, wie soll da individuelle Förderung gehen?“
Doch sie hat immer häufiger mit Mädchen und Jungen zu tun, die eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Legasthenie haben. „Ich glaube aber nicht, dass das mehr geworden ist“, sagt sie sofort, „es wird häufiger diagnostiziert“. Im Grundschulalter gehe man von einem Anteil zwischen vier und zehn Prozent aus. Im schulischen Alltag sei es aber schwierig, richtig zu helfen. „Wenn ich 28 Kinder in der Klasse habe, wie soll da individuelle Förderung gehen?“
Hinter LRS stehen Teilleistungsstörungen: visuelle, akustische oder motorische Probleme, ebenso Schwierigkeiten mit Körperschema und Raumlage. „Da bringt es nichts, nur auf einem Blatt Papier zu üben.“ Weil es eben nicht Rechtschreib-, sondern Wahrnehmungsfehler sind. An denen müsse man zielgerichtet und differenziert arbeiten: „Es geht um andere Lernzugänge.“ Belinda Blessing hat diese mit Hilfe ihrer Pferde gefunden.
„Pferde tun der Seele gut“
Sie reitet, seit sie sechs Jahre alt ist. Sehr zurückhaltend sei sie als Kind gewesen, habe es allen recht machen wollen. Der Umgang mit Pferden habe sie offener, selbstbewusster gemacht. „Pferde tun der Seele gut“, sagt sie, „sie sprechen die Sinne an“. Joe und Farino hält sie in ihrem eigenen Offenstall am Ortsrand von Bermaringen. Aus den Namen ihrer beiden Co-Trainer hat sie „Jorino“ gemacht, so nennt sie ihr Nachhilfe-Angebot.
Wie es dazu kam? Im Internet war sie auf „Easy riding, easy learning“ gestoßen, eine therapeutisch-pädagogische Weiterbildung in Österreich. Das Konzept leuchtete der Pferdenärrin sofort ein: „Jeder weiß, wie motivierend Tiere für Kinder sein können.“ Sie absolvierte die Fortbildung über ein halbes Jahr und bietet nun samstags ihr Training an.
Erfolgreiches Lernen werde von positiven Emotionen befördert, und da kommen die Pferde ins Spiel, erläutert die Lehrerin. Wer eine Lernstörung hat, stecke oft in einer Negativspirale aus schlechten Erfahrungen, Strafen und fehlendem Selbstbewusstsein. Diese Spirale will sie unterbrechen: mit Motivation, Stimulation, Wohlgefühl und zielgerichtetem, stärkendem Vorgehen.
Der erste Teil eines 90-minütigen Trainings besteht aus spielerischen, individuellen, auf die Teilleistungsstörungen abgestimmten Übungen. Das Kind führt dabei das Pferd, oder es sitzt auf dem Pferd und wird geführt.
„Es gibt eine Unmenge an Möglichkeiten“
So wird etwa aus farbigen Schwimmnudeln ein Parcours aufgebaut. Der wird dann mit dem Pony über eine bestimmte Farbreihenfolge abgegangen. Das steigert Aufmerksamkeit und Konzentration, schult akustisches Gedächtnis und optische Differenzierung sowie die Raumlage. „Es werden also fast alle Bereiche trainiert.“ Und das Selbstbewusstsein steige auch.
„Es gibt eine Unmenge an Möglichkeiten“, sagt Blessing, zum Beispiel ein Memory-Spiel vom Pferd aus. In der Schule werde vor allem über Sehen und Hören unterrichtet, „aber manche Kinder lernen besser in Bewegung“. Und das Gefühl des Getragenwerdens sei doch eine Ursehnsucht. Zudem stärkten die Schrittbewegungen den Austausch zwischen den Hirnarealen. Klar: „Angst darf nicht dabei sein.“ Ihre Pferde seien freilich ruhig, gutmütig und nervlich stabil.
Der Druck muss weg
Im zweiten Teil des Unterrichts folgt ein Lese- und Schreibtraining am Tisch. „Um die Sache kommen wir nicht rum“, betont die Lehrerin – aber der Tisch steht eben auf dem Paddock oder im Stall, und das Pferd ist dabei, „das sorgt für positive Emotionen, baut Stress ab. Wir müssen den Druck wegnehmen.“
Von der Wirksamkeit ist Belinda Blessing überzeugt, es funktioniere vom Vorschüler bis zum Erwachsenen, denn an dieser Art des Lernens finde jeder Freude: „Man ist an der frischen Luft, hat keine Ablenkung, keine Hektik, keine Reizüberflutung, dafür eine anregende Lernumgebung.“ Und geduldige vierbeinige Trainer.
Info: Mehr über Belinda Blessing und ihre Nachhilfe unter www.jorino.de
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Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind von einer Lese-Rechtschreib-Schwäche betroffen – mindestens. Die Schätzungen gehen bis zu zehn Prozent.