Vor 50 Jahren breitete sich eine Grippewelle in Europa aus. Einige Experten wie der Tübinger Obermedizinialdirektor Dr. Werner schwächten noch am 16. Dezember 1969 entsprechende Berichte über eine Grippe-Epidemie von selten dagewesenem Ausmaß ab. Lediglich zwei echte Hongkong-Grippefälle seien bislang in Südwürttemberg nachgewiesen, meinte Werner. Er sollte sich gewaltig irren. Im Stuttgarter Raum war die Situation Anfang Dezember 1969 bereits dramatisch. Hier zeichnete sich eine außergewöhnlich heftige Grippewelle ab. Die Kreisärzteschaft sprach angesichts einer dramatischen Häufung von Grippefällen sogar von einer katastrophalen Lage.
Die Grippewelle ließ sich nicht mehr stoppen und traf auch den Kreis Ludwigsburg mit voller Wucht. Am 18. Dezember 1969 schlug das Ludwigsburger Kreiskrankenhaus Alarm. Wegen der Grippewelle herrschte dort inzwischen akuter Bettenmangel. Patienten mit leichteren Erkrankungen konnten nicht mehr aufgenommen werden. Auch etliche Bedienstete des Krankenhauses hatten sich bereits mit Grippe infiziert. Die Ärzte baten deshalb dringend, von Krankenbesuchen Abstand zu nehmen.
Das Bundesgesundheitsamt in Berlin teilte zu dem Zeitpunkt mit, dass es nicht zu erwarten sei, dass die Grippewelle ein katastrophales Ausmaß annehme. Die Grippe-Schwerpunkte lägen im süddeutschen Raum nördlich von Stuttgart, Würzburg, München, Nürnberg und Rheinland Pfalz.
350 Krankmeldungen am Tag
Ganz anders bewertete am 19. Dezember die AOK Bietigheim diese Entwicklung. Der tägliche Zugang an Krankmeldungen lag bei 300 bis 350 Versicherungspflichtigen. Die AOK Bietigheim sprach mit Blick auf diese Zahlen von einer Grippe-Epidemie, die eine bisher nie dagewesene Dimension erreicht habe. In einigen Betrieben fehlten 30 bis 40 Prozent der Belegschaft, fast jede Familie war inzwischen von der Grippe betroffen.
Die Pandemie wütete auch in den anderen Bundesländern. In Bayern waren am 20. Dezember bereits 40 Prozent der Bevölkerung an der Grippe erkrankt.
Die Situation in den baden-württembergischen Krankenhäusern spitzte sich durch grippekrankes Personal weiter zu. Die Krankenhäuser waren voll belegt. Hausbesuche der Ärzte waren nur noch in dringenden Notfällen möglich. Man kämpfte mit aller Kraft gegen die schwerste Grippe-Epidemie seit 25 Jahren. Am 22. Dezember appellierten die Stuttgarter Krankenhäuser an Hausfrauen, dem überlasteten Pflegepersonal zu helfen. Eine pflegerische Vorbildung sei für diese Tätigkeit zwar erwünscht, jedoch keine Voraussetzung.
Am 23. Dezember wurde in Südwürttemberg das Virus A 2 69 isoliert. Dies war sozusagen die offizielle Bestätigung, dass die Hongkong-Grippe vollends in Baden-Württemberg angekommen war. Bereits neun Menschenleben forderte die Grippe-Epidemie.
Erste Todesopfer in Ludwigsburg
Ein 46-jähriger Mann und eine 37-jährige Frau starben im Ludwigsburger Kreiskrankenhaus an der hochansteckenden Krankheit. Die Bietigheimer Gemeindeschwestern Paula und Sofie, sowie Schwester Lydia in Sersheim, hatten über die Weihnachtsfeiertage alle Hände voll zu tun, neben den üblichen Patienten auch die zahlreichen Grippekranken, die daheim waren, zu versorgen. 11,3 Prozent der rund 31 500 Versicherten bei der AOK Bietigheim waren am 24. Dezember krank, dies war quasi ein neuer Rekord. Die Grippewelle verursachte auch einen regelrechten Kollaps im Postbetrieb. In Asperg war Ende Dezember jeder sechste Postbeamte krank. In den Stuttgarter Kliniken waren Beatmungsgeräte für die Behandlung der Schwerkranken Mangelware. Hinzu kamen Ausfälle bei Ärzten und Pflegepersonal.
Die Viren machten sich auf den Weg in den Norden. In Hamburg waren Mitte Dezember bereits elf Menschen an der Hongkong-Grippe verstorben. Dort stieg nun die Zahl der Grippekranken rasant an. Besorgniserregend war der Umstand, dass die Erkrankungen bereits nach ungewöhnlich kurzer Zeit zum Tode führten und auch jüngere Menschen nicht verschonten. Ganze Familien waren inzwischen bettlägrig. Um die Jahreswende 1969/1970 hatte die Grippe Europa fest im Griff.
Am 30. Dezember hatte nach einer Mitteilung der Behörden die Influenza ihren Höhepunkt in Südeuropa offenbar überschritten. Etwa 10 bis 18 Millionen Italiener hatten bis dahin die Grippe „durchgemacht“. In einer Meldung des Enz- und Metter-Boten vom 31. Dezember 1969 hieß es: „In einem ‚Siegeszug’, der die Wellen der Vorjahre weit übertraf, suchte die Grippe von Italien ausgehend Frankreich, Jugoslawien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Schweden und Großbritannien heim“. In Niedersachsen war jeder Dritte an Grippe erkrankt.
130 Tote in Baden-Württemberg
Am 20. Januar zog das baden-württembergische Innenministerium eine erste offizielle Bilanz. Demnach hatte die Grippewelle 130 Tote in Baden-Württemberg gefordert.
Die AOK Bietigheim bezifferte am 13. Februar 1970 die durch die Grippe verursachten Kosten auf über eine Million D-Mark. Trotz allen Bemühungen starben in Ludwigsburg 26 Menschen an der Grippe, darunter drei Kinder.
Hätten sich mehr Menschen der von den Ärzten empfohlenen Grippeimpfung unterzogen, hätten viele nicht sterben müssen, sagte der ärztliche Direktor Professor Dr. Gernot Friese am 16. Februar im Kreiskrankenhaus-Ausschuss des Landkreises. Die Grippewelle hatte das Ludwigsburger Krankenhaus nach seiner Aussage, bis aufs Äußerste beansprucht. 308 schwer an Grippe erkrankte Patienten wurden dort behandelt. In den beiden inneren Abteilungen waren über zwei Drittel aller Betten von Grippekranken belegt. Die Kinderklinik betreute 122 grippekranke Kinder. Da die Infektionsabteilung mit ihren 14 Betten nicht alle Grippekranke aufnehmen konnte, wurden diese auf den Allgemeinstationen versorgt. Die Betreuung dieser großen Zahl an Grippekranken wurde dadurch erschwert, dass zeitweise fast ein Viertel des Personals selbst an Grippe erkrankte. Viele Angehörige des Personals waren an diesen Tagen bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit im Einsatz, so Professor Friese.
Die AOK Ludwigsburg bezifferte am 10. Februar 1970 die durch die Grippe verursachten Kosten auf rund 1,8 Millionen D-Mark. Der baden-württembergische Innenminister Walter Krause räumte am 10. März 1970 ein, dass es nicht immer möglich gewesen sei, die Bevölkerung ausreichend mit den erforderlichen Medikamenten ohne Verzögerungen zu versorgen. In Notlagen sollten Apotheken auch kurzfristig auf Vorräte des zivilen Bevölkerungsschutzes zurückgreifen können.
Experten gehen davon aus, dass in der Bundesrepublik rund 40 000 Menschen bei dieser Grippe-Pandemie starben. Weltweit dürften im Zeitraum von 1968, dem ersten Auftreten der Hongkong-Grippe, bis zum Ende der Grippe-Pandemie im Jahre 1970 rund eine Million Menschen an dem Virus gestorben sein.
Die Hongkong-Grippe
Die 1968 kursierende Grippe entstand aus einer Kombination von Geflügelpest-Viren mit Influenzaviren. Im Sommer 1968 wurde das Virus in Hongkong erstmals nachgewiesen und ging als Hongkong-Grippe in die Medizingeschichte ein. Experten haben für das Gebiet der alten Bundesrepublik berechnet, dass etwa 40 000 Menschen in Westdeutschland an der Hongkong-Grippe verstorben sind. Bis heute ist die Hongkong-Grippe die Influenza-Pandemie, die weltweit mit am meisten Opfer gefordert hat. mh