Montagmittag, 12.55 Uhr, an der Hechinger Staig: Eltern, Geschwister und Freunde des 22-jährigen Umut K. stehen an der privaten Gedenkstätte bei der kleinen Sitzgruppe. Sie halten sich an den Händen, und sofort fließen wieder Tränen. Was sich dort am frühen Abend des 1. Dezember 2016 abgespielt hat, ist weder vergessen noch verarbeitet: Der junge Bisinger aus einer kurdischen Familie war durch einen Schuss aus einem vorbeifahrenden Auto tödlich in die Brust getroffen worden.
Dutzende Male sind sie hier schon gestanden, doch diesmal bleibt nicht viel Zeit zum Innehalten. Denn der Besuch geschieht im Rahmen einer Tatortbesichtigung der Großen Jugendkammer des Landgerichts, zu der Richter Dr. Hannes Breucker am Ende des dritten Verhandlungstages überraschend geladen hatte. Mit einem eigens gecharterten Bus fuhren die Verfahrensbeteiligten – Richter, Ankläger, Verteidiger, Gutacher, Dolmetscher – zum Platz vor dem Oldtimermuseum hinab, während die drei Angeklagten in vergitterten blauen Minnas der Justiz vorgefahren wurden, die Fahrzeuge aber nicht verlassen durften.
Fünf Minuten dauerte der „richterliche Augenschein“ zwischen der Spielothek (in der sich die Bluttat durch einen lauten Streit unter italienischen Drogenhändlern angebahnt hatte) und dem Ort des tödlichen Schusses. Dann vertagte sich die Kammer. Was der Vor-Ort-Termin außer bedrückenden Erinnerungen gebracht hat, könnte am Mittwochnachmittag zu erfahren sein, wenn der Mordprozess fortgesetzt wird.
Reine italienische Angelegenheit
Am Morgen im Gerichtssaal waren die Angeklagten stundenlang ins Kreuzverhör genommen worden. Dabei war der Name Umut K. kein einziges Mal gefallen. Je länger der Prozess dauert, desto klarer wird, wie weit der junge Kurde am Rande des eigentlichen Geschehens stand. Dieses dreht sich um Drogenhandel in größerem Stil und entpuppt sich zunehmend als reine italienische Angelegenheit.
Wer den tödlichen Schuss abgegeben hat? Das ist umstrittener denn je. Nachdem vor drei Wochen der Beifahrer im Tatfahrzeug behauptet hatte, sein jüngerer Komplize habe vom Fahrersitz aus geschossen, hat jetzt der Fahrer des roten Fiat Punto seinen Beifahrer für den Schuss verantwortlich gemacht. Der inzwischen 21-jährige Zimmermann aus dem Raum Burladingen schilderte, wie er am Tatabend nach einem lautstarken Streit in der Spielothek um eine offene 5000-Euro-Rechnung aus einem Marihuana-Geschäft und einer Rundfahrt um den Block wieder auf dem Platz vor dem Oldtimermuseum vorfuhr. Dort habe sein 22-jähriger Kumpel den 25-jährigen Schuldner (der inzwischen in Begleitung des ihnen unbekannten Umut K. war) noch einmal zur Rede stellen wollen. „Ich wollte mit der Sache nichts zu tun haben. Ich wollte so parken, dass ich nichts sehe. Wie ich nach links schaute, um einzuparken, habe ich einen Pistolenschuss gehört.“ (Von einer „Vollbremsung“ könne übrigens nicht die Rede sein.) Sein Komplize auf dem Beifahrersitz habe dann „die Hand mit der Pistole reingenommen und gesagt: Fahren wir schnell weg.“ Er selbst habe „Angst bekommen, gezittert und geschwitzt.“ Der Schütze neben ihm habe behauptet: „Ich habe in die Luft geschossen. Es ist nichts passiert.“ Schnell sei man nach Hause gefahren – übrigens nicht durchs Killertal, sondern über die B 27 und Tail-fingen. Die Tatwaffe, die bis heute vermisst wird, habe sein Mitangeklagter ebenfalls behalten: „Als ich daheim ausstieg, hatte er die Pistole noch zwischen den Beinen.“
Märchen am frühen Morgen
Nach einer schlaflosen Nacht – so der Zimmermann weiter – habe er bei der Arbeit von seinem Chef erfahren, dass es in Hechingen eine Schießerei mit einem Todesopfer gegeben habe. Seinem Vater zu erzählen, dass er dabei war, habe er sich nicht getraut. Am Abend habe der Vater dann vom Onkel erfahren: „Die Polizei sucht Deinen Sohn.“ Zu diesem Zeitpunkt war der 22-jährige Komplize bereits daheim im oberen Killertal verhaftet worden. Samstagfrüh um sieben stellte sich der Fahrer des Tatfahrzeugs dann in Hechingen der Polizei.
Dieser und auch der Untersuchungsrichterin tischte der junge Italiener aber Märchengeschichten auf (während seine Mutter im anderen Raum einen Kreislaufkollaps erlitt). Unter anderem behauptete er, mit einem zweiten, einem schwarzen Auto am Tatort gewesen zu sein. Weil es jetzt, da zwischen den beiden Tatverdächtigen Aussage gegen Aussage steht, stark auf die Glaubwürdigkeit ankommt, wollte Richter Breucker von dem 21-Jährigen schon genau wissen, warum er ursprünglich gelogen habe. Zunächst gab er an, er habe seinen Kumpel „schützen wollen“. Doch Nebenklägervertreter Harald Stehr schöpfte einen anderen Verdacht: „Haben Sie Angst vor ihm?“ Der Angeklagte daraufhin: „Nach dieser Sache ja. Das ist ja normal, wenn einer eine Pistole hat. Ich hatte Angst, er würde meiner Familie etwas antun.“
Der Benjamin auf der Anklagebank mühte sich nach Kräften, seine Tatbeteiligung als geringfügig erscheinen zu lassen. Mit dem Kilogramm Marihuana habe nur sein Kumpel gehandelt. Er selbst sei nur dabei gewesen, aber nicht zur Hälfte am Geschäft beteiligt, wie der Ältere der beiden behauptet hatte. Und auch beim Versuch, am 1. Dezember in der Spielothek das Geld einzutreiben, habe er sich zurückgehalten, während sein Komplize und dessen Schuldner sich „lautstark auf Italienisch“ gestritten hätten.
Wie der dritte Angeklagte, der in der Spielothek ebenfalls zugegen war, ergänzend wissen ließ, sei es beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Anschlussfrage des Richters an den 36-Jährigen: „Gab es auch Bedrohungen?“ Antwort: „Nein, ich habe nichts gehört, nur: ,Du kriegst einen Haufen Schläge.’“
Da durfte dann doch ein wenig geschmunzelt werden im schwülen Schwurgerichtssaal, in dem die Zuhörerplätze am Montagmorgen erstmals nur halb besetzt waren.
Am Mittwoch sagt der Überlebende aus
Es bleibt spannend im Hechinger Mordprozess. Nachdem sich die beiden Hauptangeklagten gegenseitig bezichtigt haben, aus dem roten Fiat Punto geschossen zu haben, werden die kommenden Zeugenaussagen umso wichtiger. An diesem Mittwoch, wenn der Prozess um 13.30 Uhr fortgesetzt wird, kommt zunächst der 25-jährige Italiener zu Wort, der neben Umut K. stand und vermutlich das eigentliche Ziel des Schusses war. Mit ihm war zumindest einer der Angeklagten vor dem Todesschuss wegen einer offenen 5000-Euro-Drogenrechnung in Streit geraten. hy