Das gleißende Licht der Wintersonne fällt durch die Dachfenster auf Brigitte Wagners Arbeitstisch. Über den fein säuberlich aufgereihten Pinseln, Stiften, Radiernadeln und Flaschen mit Tusche hängt eine knorrige Wurzel. Sie erinnert an einen Vogel im Flug. „Die habe ich bei einem meiner vielen Spaziergänge gefunden“, erzählt die Künstlerin aus Meßstetten. Die weite Landschaft, die knorrigen Bäume – das ist Brigitte Wagners Welt.
In ihren Radierungen und Zeichnungen erweckt sie schroffe Landschaften zum Leben. Blickt man lange genug auf ihre mit feinen Strichen porträtierten Darstellung von Gebirgsflächen und Eiswelten, scheinen sie sich fast zu bewegen wie das Meer an einem stürmischen Tag. Unverkennbar ist der Einfluss der Landschaft um das alte Bauernhaus auf dem Michelfeld auf ihre Arbeit, in dem sie mit ihrem Mann lebt. Die Drucke und Zeichnungen, die dort an den Wänden hängen, wirken beinahe wie Fenster zur Landschaft draußen – doch nur beinahe. Wagner kopiert nicht nur, was sie bei ihren Spaziergängen mit dem Hund in Meßstetten wahrnimmt. Die scharfen Striche, die verschlungenen Linien, aber auch weiten Flächen verleihen Wagners Landschaftsansichten eine eigenwillige, fast mystische Tiefe.

Brigitte Wagner fing als Jugendliche mit Zeichnungen an

Mit 16 Jahren fing sie an zu zeichnen, kopierte mit Pastellkreide Franz Marc von Postkarten, erzählt sie. Die heute 82-Jährige wuchs in Reutlingen in einer kreativen Familie auf. Ihre Mutter studierte Musik. Wagner fasst früh den Entschluss, Künstlerin zu werden „nicht Lehrerin für Kunst“, wie sie im Gespräch immer wieder betont. Ihre Eltern unterstützten den Wunsch.
Sie studierte drei Jahre an der Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. Dort entdeckt sie ihre Liebe zur Grafik – insbesondere zur Kaltnadeltechnik. Dabei ritzt die Künstlerin mit einer Radiernadel das Motiv in eine Kupferplatte. Anders als zum Beispiel bei der Arbeit mit Säure entsteht eine Wölbung rechts und links der geritzten Linie. „Das ist ein anderer Strich – der lebt“, sagt Wagner. Es ist Arbeiten gegen das Material. Dafür benötigt die Künstlerin viel Kraft. Auch Emotionen helfen. „Wenn man zum Beispiel richtig wütend ist“, sagt Wagner.
Ist die Platte fertig, trägt Wagner Farbe auf und legt sie in die Druckerpresse. Herauskommt das Motiv, spiegelverkehrt natürlich. „Ich scherze immer, dass ich keine Stadtansichten mache, weil dann die Kirche auf der falschen Seite wäre“, erzählt Wagner und lacht. Es blieb bei Landschaften.

Altes Bauernhaus in Meßstetten gekauft

Als freischaffende Künstlerin arbeitet sie bei verschiedenen Projekten mit. Einfach war die Zeit nach dem Studium nicht. „Man marschiert ja nicht aus dem Studium raus und dann sagen alle Leute: Gott sei Dank, gibt es da jetzt eine neue Künstlerin“, sagt Wagner. Mit ihrem ersten Ehemann zog sie nach Meßstetten in das alte Bauernhaus, in dem sie heute noch lebt und arbeitet. Damals, Anfang der 70er, war es halb verfallen. Für 5000 Mark kauften sie es, richteten es mühevoll her. Wagners Stil findet sich auch darin. Dunkles Holz dominiert die alte Bauernstube, die sie bewusst nicht modern eingerichtet hat. In einem Regal stehen historische Kaffeemühlen und Gläser. 
In der Region gestaltete Wagner die Kunstszene aktiv mit. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der „Städtischen Galerie Albstadt“, heute das Kunstmuseum Albstadt, gestaltete sie Ausstellungen, katalogisierte die Werke anderer Künstlerinnen und Künstler und kaufte selbst Werke für die Sammlung auf Auktionen in ganz Deutschland. „Es war eine wunderbare Zeit“, sagt Wagner. Die Kontakte zu Künstlern aus dieser Zeit pflegt sie immer noch. „Zu vielen hat sich über die Jahre eine Freundschaft entwickelt“, sagt sie.

Galerie im Fehlochhof als Raum für heimische Künstler

Die pflegt sie auch als Galeristin. 2012 eröffnete sie gemeinsam mit ihrem zweiten Mann, Reinhard Wulf, in einem Anbau ihres Hauses die Galerie im Fehlochhof. „Wir wissen, dass es hier in der Gegend für heimische Künstler eigentlich keine Plattform gab“, erläutert Wagner den Schritt. Denn die Doppelrolle Galeristin und Künstlerin ist ungewöhnlich in der Branche. Die Kunstschaffenden, die bei ihnen ausstellen, wählen sie genau aus. „Wir lassen uns anfliegen von der Qualität dessen, was derjenige macht“, sagt Wagner. Die Ausstellungen konzipiert sie selbst. Das ist selbst eine Art künstlerischer Prozess für die 82-Jährige. „Dann kann ich weder Hund noch Mann noch Künstler gebrauchen“, erzählt Wagner. Einen „heimlichen Prozess“ nennt die Ausstellungsgestaltung ihr Mann. Für mehrere Stunden verschwindet sie in den drei Räumen im Anbau, sortiert die Werke, stellt sie, stellt sie wieder um – bis alles perfekt ist.
Das lohnt sich. Die Galerie hat auch über Meßstetten hinaus einen guten Ruf. Eröffnet das Paar eine Ausstellung, stehen die Autos bis zur Kreuzung an dem kleinen Feldweg. Über die vergangenen zehn Jahre hat sich eine Fangemeinde gebildet. Regelmäßige Besucher helfen auch einmal ein Zelt aufzustellen oder backen Kuchen. Es sei wie eine Familie geworden, sagt Wagner. Die Künstlerin verbringt ihre Wochenenden in der Galerie. „Es wird erwartet, dass wir hier sind und für Gespräche zur Verfügung stehen“, sagt sie. „Überwiegend mit meiner Frau, weil sie die Kompetente ist“, ergänzt Wulf.
Verändert die Arbeit mit den Kunstwerken anderer Kunstschaffender auch ihren Stil? „Zum Glück nicht“, sagt Wagner. Natürlich käme sie manchmal auf die Idee: Man könnte wieder ein Aquarell malen. In der Formensprache und ihrer grundsätzlichen Auffassung bleibe sie aber bei ihrem Stil. „Man nimmt viel auf, aber nicht so, dass es dann in der eigenen Arbeit sichtbar werden würde“, sagt Wagner.
Die Corona-Pandemie hingegen hatte einen Einfluss auf Wagners Schaffen. Durch Lockdowns und Reduzierung von Kontakt kehrte auf dem weit abgeschiedenen Michelfeld Ruhe ein. Diese Ruhe hat Brigitte Wagner genutzt, hat neue Techniken ausprobiert.

Statt Radierung: Kreide als neue Technik

Denn eine Verletzung am Arm macht ihr die Arbeit mit der Radiernadel im Moment schwer. „Ich hoffe, dass der Schmerz weggeht“, sagt Wagner sichtlich zerknirscht über diesen Dämpfer. Aufhalten lässt sich die 82-Jährige aber nicht. Nun arbeite sie mit Rohfeldern, Tuschezeichnungen oder aber mit dem Pinsel, Aquarell oder mit Kreide. Inspiriert zu den Kreidezeichnungen hat sie ihr Mann bzw. dessen Geburtstag. Sie wollte dafür selbst etwas herstellen. „Ich bin in mein Atelier gegangen und dachte: Jetzt musst du was machen“, sagt Wagner. Dann griff sie zur weißen Kreide. Zeichnet auf schwarzen Karton. „Es ist eine ganz neue Welt“, sagt Wagner. Ihr Stil ist in den Arbeiten jedoch unverkennbar.
Zwei Werkverzeichnisse hat sie schon herausgegeben. Eines der Verzeichnisse widmet sich den Drucken und eines den Zeichnungen. Ans Aufhören denkt sie trotz ihres Alters nicht. Wagner sagt: „Das ist meine Welt, das ist mein Leben.“

Kunst mit Rahmenprogramm

Als Plattform für heimische Künstlerinnen und Künstler gründeten Brigitte Wagner und Reinhard Wulf die Galerie am Fehlochhof 2012. Eröffnet wurde die Galerie auf dem Michelfeld mit einer Ausstellung von Werken des Paares.
Zusätzlich zu den Ausstellungen gestalten die beiden ein Rahmenprogramm. Wagner gibt beispielsweise Druckvorführungen. Auch andere Kunstformen beziehen sie ein. So gab es eine Kooperation mit dem Theater Balingen. 
Während der Pandemie war die Galerie zunächst geschlossen. Im Juli 2012 öffnete sie mit Hygienemaßnahmen mit der Ausstellung „Kunstwege“ wieder. Für das Frühjahr 2023 ist eine neue Ausstellung geplant.