Ein verstaubtes Image und sinkende Mitgliederzahlen. Die Kirchen stehen seit langem in der Kritik – und können immer weniger Menschen von sich als starke Institution überzeugen. „Aber irgendwann im Leben stellen sich Menschen existenzielle Fragen. Sie verbinden das vielleicht nicht unbedingt mit dem Christentum, aber die Fragen sind da“, sagt Lilien Sandford. „Spiritualität wird immer noch gelebt, aber Kirche muss die Menschen vielleicht an anderen Orten abholen“, ergänzt Julian Kempf.
Sandford, Kempf und Mareike Lasi nehmen die Herausforderung, der sich Kirchen stellen müssen, natürlich wahr. Aber sie schrecken sie nicht ab. Die beiden jungen Frauen und der junge Mann haben am 1. April ihr Vikariat, also ihre evangelische Pfarrausbildung, begonnen – und zwar alle drei in Albstadt. Eine Besonderheit, denn insgesamt bildet die evangelische Landeskirche zu diesem Startpunkt lediglich 16 Vikarinnen und Vikare aus. „Dass drei davon hier in Albstadt ihre Ausbildung absolvieren, zeigt das Vertrauen, das die Landeskirche in uns hat“, sagt Johannes Hartmann. Und der Pfarrer der Tailfinger Pauluskirche sieht es als „Mega-Zeichen, dass bei uns drei junge Leute anfangen“.

Neue Idee und Begabungen

Bürgerinnen und Bürger freuen sich immens, wenn neue Vikare ihre Ideen, Begabungen und andere Ansichten auf die Welt in die Gemeinde bringen. „Sie nehmen sie mit Wohlwollen auf, weil junge Vikare eine Gemeinde und die Kirche beleben“, sagt Pfarrer Christoph Grosse (Galluskirche, Truchtelfingen).
Die Aufgaben der neuen Vikarinnen und des Vikars sind vielfältig. Natürlich gehört die Vorbereitung einer Predigt und – nach etwas Eingewöhnungszeit – auch das Predigen im Gottesdienst zur Jobbeschreibung. „Ein bisschen nervös werden wir vor unserer ersten Predigt wohl alle sein“, sagt Mareike Lasi. „Aber das gehört dazu.“ Es sei immerhin eine große Verantwortung, auf der Kanzel zu stehen.

Vielfältige Aufgaben in der Gemeinde

Neben dem Gottesdienst sind die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer in ganz unterschiedlichen Tätigkeiten gefördert: Als Seelsorger kümmern sich Pfarrer um Bewohner von Pflegeheimen und um Patienten in Kliniken. Sie besuchen Kindergärten, geben Religionsunterricht, bereiten die Konfirmanden auf ihre Konfirmation vor und sind in der Erwachsenenbildung tätig. Zudem fallen kirchliche Kindergärten in ihren Verwaltungsbereich. Es sind vielfältige Aufgaben, die auf Sandford, Kempf und Lasi warten. „Aber wir freuen uns riesig darauf loszulegen“, sagt Julian Kempf. „Nach sechs Jahren Theologiestudium ist es toll, nun praktisch und nahe an einer Gemeinde arbeiten zu dürfen.“
Ihre erste Aufgabe: eine Sozialraumanalyse. Diese wird auch für die Ausbildungspfarrer Hartmann, Grosse und Pfarrerin Ilze Druviņa spannend. „Man ist oft in seinem gewohnten Trott. Da ist ein Blick von außen darauf, was in der Gemeinde gut und was schlecht läuft und welches Angebot eventuell fehlt, sehr wichtig“, sagt Grosse.

Die Gemeinde kennenlernen

Am Anfang geht es für die Vikarinnen und Vikare darum, ihre Gemeinde und vor allem die Menschen kennenzulernen. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen verstehen, wie die Gemeindemitglieder „ticken“. Das große Ziel ist es später, nach bestandenen kirchlichen Examen, selbstständig ein Pfarramt zu führen. „Die Landeskirche investiert viel Zeit, Geld und Mühe in die Ausbildung“, sagt Johannes Hartmann. „Da ist es natürlich der Wunsch, dass man die Vikare halten kann. Wichtig ist, dass die evangelische Landeskirche die richtigen Voraussetzungen schafft.“ Denn auch für Pfarrer sind attraktive Arbeitsplätze keine Frage des Glaubens, sondern der praktischen Umsetzung.
Die beiden Vikarinnen und der Vikar in Albstadt sollen nun von der Nähe zueinander profitieren. Und sie sollen und wollen Kirche und Menschen näher zusammenbringen. Keine einfache Aufgabe. „Wenn man sich zu sehr mit dem Negativen beschäftigt, lähmt das“, sagt Julian Kempf. „Daher ist es wichtiger zu schauen, was wir hier vor Ort positiv bewegen können.“

Was macht ein Vikar, eine Vikarin eigentlich?

Am 1. April haben 16 Vikarinnen und Vikare ihre praktische Ausbildung in den Pfarrdienst der evangelischen Landeskirche in Württemberg begonnen, drei davon im Kirchenbezirk Balingen. Lilien Sandford aus Tübingen (30) bei Pfarrerin Ilze Druviņa in Ebingen (Emmauskirche), Mareike Lasi aus Neuhausen ob Eck (27) bei Pfarrer Johannes Hartmann in Tailfingen (Pauluskirche) und Julian Kempf aus Mühlheim an der Donau (28) bei Pfarrer Christoph Grosse in Truchtelfingen (Galluskirche).
Das Vikariat ist begleitete Praxis in den Aufgabenfeldern eines Pfarramts und umfasst die Einführung in die Gemeindearbeit, Gottesdienste, Amtshandlungen wie Taufen, Trauungen und Beerdigungen, Seelsorge, Religionspädagogik, aber auch Recht und Verwaltung. Die Ausbildung vor Ort wird ergänzt durch Kurswochen in Stuttgart-Birkach. Das Vikariat dauert zweieinhalb Jahre und endet am 31. August 2025.