Kinder zum Essen zwingen, erniedrigen oder schlagen – klingt nach Ausnahmesituationen, kommt allerdings in den Kitas in Süddeutschland immer öfter vor. Denn wie eine Untersuchung des Bayerischen Rundfunks unter bayerischen Aufsichtsbehörden herausfand, nehmen Meldungen seelischer und körperlicher Gewalt gegenüber Kindern in dem Land zu. Bis Anfang Dezember 2022 zählten bayerische Kitas fast 100 mehr Übergriffe als noch im Jahr davor. Besonders dramatisch sind die Entwicklungen bei Verstößen gegen die Aufsichtspflicht, wenn also Gewalt unter Kindern nicht geahndet wird. Diese haben sich innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt. Es sind Zahlen, die zum Nachdenken anregen und die ein vermeintliches Tabuthema ins Licht gesellschaftlichen Interesses rücken.

Keine kreisbezogenen Daten ermittelt

Denn ein rein bayerisches Problem ist diese Entwicklung nicht. Auch in Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Gewaltmeldungen von 2020 auf 2021 um 20 Prozent erhöht. Das bestätigt der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS). Ob sich diese Zahlen auch auf den Zollernalbkreis übertragen lassen, ist indes unklar, da die Daten des KVJS nicht kreisbezogen erfasst werden.
Die Stadt Balingen, als Träger städtischer Kindergärten, kann den Anstieg an Gewalttaten in Kitas nicht bestätigen. „Generell gibt es bei uns als Stadt ganz wenige Fälle, welche wir dem KVJS melden müssen. Übergriffe von Erzieherinnen und Erziehern auf Kinder sind keine bekannt“, sagt Jürgen Luppold, persönlicher Referent von Oberbürgermeister Helmut Reitemann.
Der Verband Kitafachkräfte Baden-Württemberg hält eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema dennoch für dringend notwendig. „Gewalt in Kitas darf nicht sein. Sie ist aber da und in vielen Einrichtungen zumindest in subtiler Form präsent“, heißt es in einer Pressemitteilung. Und das, obwohl der Bund 2021 per Gesetz ein einrichtungsbezogenes Kinderschutzkonzept verpflichtend gemacht hat. Dieses soll dabei helfen, Kinderschutz zu gewährleisten.
Wie kann es aber sein, dass trotz dieser Maßnahmen die Zahl der Übergriffe weiter steigt? Julia Holzwarth vom KVJS wies bei dieser Frage darauf hin, dass neben der Zahl der Meldungen „auch die Zahl der Kindertageseinrichtungen angestiegen“ sei. Der prozentuale Anstieg der Meldungen von 2020 auf 2021 umfasse somit, in Bezug auf die Gesamtzahl der Kindertageseinrichtungen, etwa 0,5 Prozentpunkte.

Zu wenig Personal und zu große Gruppen als Kernprobleme

Ein zentrales Problem spielt sich dennoch in den Vordergrund. Für die 1. Vorsitzende vom Verband Kitafachkräfte Baden-Württemberg, Anja Braekowseien, sind die strukturellen Mängel in den Kitas ausschlaggebend für die Übergriffe: „Zu große Gruppen, Personalmangel, Überlastung und hohe Förderbedarfe einzelner Kinder sind vielerorts Alltag.“
Julia Holzwarth vom KVJS bestätigte, „dass in den letzten Jahren die Kindertagesbetreuung in Baden-Württemberg stark ausgebaut wurde, aber auch besondere Belastungssituationen des pädagogischen Personals hinzukamen“ wie geflüchtete Kinder und die Coronapandemie. Auch der bereits seit Jahren zu verzeichnende Fachkräftemangel habe sich weiter zugespitzt. Eine Fachkraft betreue demnach zurzeit etwa drei Kinder unter drei Jahren. Vorgesehen ist laut der Kindertagesstättenverordnung (KiTaVO) des Kultusministeriums des Landes allerdings eine Quote von 1 zu 1,3 bis 2,3
Personalmangel und zu große Gruppen könnten für die Verbandsvorsitzende der Kitafachkräfte Breakow demnach das Problem verschärfen. „Träger, Kommunen, Land und Bund bilden hier eine Verantwortungsgemeinschaft. Um strukturelle Mängel, die Gewalt begünstigen, zu beseitigen, müssen alle Beteiligten mehr tun.“ Denn egal, ob die Übergriffe einmalig oder wiederholt, bewusst oder unbewusst passieren – in jedem Fall verletzen sie Körper und Seele der Kinder.
Ähnlich sieht es auch das Landratsamt des Zollernalbkreises. Für eine erfolgreiche Umsetzung bedarf es struktureller Anpassungen in den Kitas: „Damit sich das erworbene Wissen praxiswirksam entfalten kann, sind die bestehenden Mindestrahmenbedingungen hinsichtlich Personalschlüssel und Gruppengrößen unabdingbar“, so die Pressestelle. Um das Gewaltschutzkonzept dennoch überall erfolgreich einzuführen, berät der KVJS Träger und Einrichtungen bei der Erstellung sowie einer Risikoanalyse des Gewaltpotenzials.

Schulungen des Zollernalbkreis seit 15 Jahren

Außerdem haben das Jugendamt des Zollernalbkreis sowie Claudia Kanz vom Verein Feuervogel, der sich gegen sexuelle Gewalt an Mädchen, Jungen und Frauen einsetzt, schon vor Inkrafttreten dieses Gesetzes, den Einrichtungen beratend zur Seite gestanden, indem sie den Fachkräften ein Fortbildungsangebot zur Entwicklung von Schutzkonzepten vorgelegt haben. Überhaupt führt der Zollernalbkreis bereits seit 15 Jahren Schulungen und Fortbildungen zum Kinderschutz durch. In diesem Jahr gebe es beispielsweise Angebote zur Kooperation des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes mit den Kindertageseinrichtungen.
Die Angebote werden von den Kitas gut angenommen. Demnach sei das Interesse der Fachkräfte an Weiterbildungen da, bestätigt das Landratsamt: „Die Quote der bereits geschulten Kitas im Landkreis ist erfreulicherweise sehr hoch.“

330

Gewaltübergriffe in Baden-Württemberg wurden im Jahr 2021 beim Kommunalverband für Jugend und Soziales gemeldet. Ein Jahr zuvor waren es noch 275 und damit 20 Prozent weniger.