Wie ordnet man die großen Dinge in der Welt, die so chaotisch sind, sodass sie dem Menschen nicht sortierbar scheinen? Wie kann eine Frau fühlen, wie es sich als Mann lebt? Wie begegnen Frauen sexualisierter Objektifizierung? Wie fühlen sich Menschen, die Opfer von Gewalt werden?
Mit diesen Fragen setzt sich die Dortmunder Künstlerin Bettina van Haaren in ihrer Ausstellung „Kein Außen mehr“ im Kunstmuseum Albstadt auseinander. In den Arbeiten geht es um Sexualität, Gewalt, Schmerz, aber auch um Humor – denn ohne diesen sei der Schmerz nicht auszuhalten: „Da ist immer auch Distanz durch Witz“, sagt die Künstlerin.
Im ersten Stockwerk hat van Haaren zwei Wochen lang weiße Wände bis spät in den Abend bemalt. Es sind vergängliche Kunstwerke: Sie werden nach Ende der Ausstellung überstrichen. Die Wände wirken fast karg, das bloße Auge nimmt zunächst nur wirre, schwarze Linien wahr. Je näher man der Wand jedoch kommt, desto deutlicher fließen die Linien ineinander, ergeben Figuren. Drastische Motive begegnen dem Betrachter, die überwältigend und auch überfordernd wirken.
Beispielsweise sprießt in dem Werk „Tinnitus im Feld“ einem Mann eine Palme zwischen den Beinen. Ihm huldigt eine Frau, deren Doppelgängerin einem Toten an den Penis greift. Zwischen ihnen steht eine Enthauptungsszene eines Mannes, dessen abgeschlagener Kopf auf den eigenen blutenden Rumpf starrt. Eine andere weibliche Figur zieht einem zum Schlag ausholenden Mann am Geschlechtsteil.
Sowohl die Frau als auch der zerstörte Körper gehen auf das monumentale Deckengemälde von St. Emmeram in Regensburg zurück, gemalt von Cosmas Damian Asam. „Solche Verkettungen, dass ein Bild vom Bild vom Bild entsteht, sind typisch für Bettina van Haaren“, sagt Museumsdirektor Kai Hohenfeld.
Die Künstlerin Bettina van Haaren beschäftigt sich in teils drastischen Zeichnungen mit Sexualität und Gewalt. Hier ist unter anderem eine Enthauptungsszene zu sehen (oben rechts in der Ecke).
Die Künstlerin Bettina van Haaren beschäftigt sich in teils drastischen Zeichnungen mit Sexualität und Gewalt. Hier ist unter anderem eine Enthauptungsszene zu sehen (oben rechts in der Ecke).
© Foto: Verena Eisele

Im Weiß verliert sich der Raum

Schockierend, ja sogar abstoßend wirken diese Szenen auf den Betrachter. Der spartanisch-weiße Hintergrund der Wände lässt ihn keinen Halt finden. Erst durch die Fokussierung auf Linien ist das Werk erkenntlich. Die Kontraste zwischen hell und dunkel, Leere und Fülle, und die Härte der Motive machen die Kunst van Haarens umso heftiger. Sie lösen Staunen, Neugierde, Schock und Bedrängnis aus, so Hohenfeld.
„Die Linien ziehen keine Grenze zwischen Innen und Außen. Es gibt kein Außen mehr“, sagt der Museumsdirektor. Dies sei ein virtuoses Äquivalent zum menschlichen Gefühl der Verlorenheit in einer aus den Fugen geratenen Gegenwart. Das Weiß sei für die Künstlerin ein „Möglichkeitsraum“, in dem schier alles Gestalt annehmen könne.
So findet sich in dem Werk „Erweiterte Luft“ eine große Selbstfigur. Makel, Verletzlichkeit, keinerlei Idealisierung – van Haaren zeigt sich losgelöst von jeder gesellschaftlichen Norm. „Ich bin keine Transperson, aber ich bin neugierig. Wie leben Männer mit Penis?“ Diese Neugierde schlägt sich in ihrem Selbstbildnis wider: Sie wird zum Hermaphrodit.
Der Stil der Zeichnungen ist „linear, homogen und abstrahierend auf eine comichafte Art“, erläutert Hohenfeld. Durch den Verzicht auf Farbe, Licht, Schatten und atmosphärische Effekte verhielten sich die Darstellungen bei der ersten Annäherung recht still, führt er weiter aus. „Sie reizen dazu, intensiver nachzuschauen und herauszufinden, was denn da überhaupt zu sehen ist. Dann setzt die Wirkung umso vehementer ein.“

Künstlerin zeichnet nur auf Reisen

Die Künstlerin findet Inspiration auf Reisen. Dafür verlässt sie regelmäßig ihre Komfortzone, denn oft sitzt sie auf einem Kirchenboden oder im Stadtraum, beobachtet das Geschehen um sie herum stundenlang. Menschen begegneten ihr selten mit wohlwollendem Interesse, berichtet Hohenfeld, sondern häufig eher mit Abneigung.
Barocke Kunstwerke dienen der Künstlerin als Vorbilder. „Die Gewalt im Barock haben wir gerade auch. Enthauptungen, abgeschnittene Brüste, ausgestochene Augen – all das findet auch heute statt“, sagt van Haaren. Sie fühle jede Figur, die sie zeichne. Sexualität sei ein großes Thema in ihrer Kunst, die Frau als Objekt, der Umgang mit Körpern, Gewalt. Unsere Welt werde gerade damit überflutet – Bettina van Haaren versucht, diese zu ordnen.

Zur Künstlerin Bettina van Haaren

Bettina van Haaren wurde 1961 in Krefeld geboren. Sie studierte von 1981 bis 1987 in Mainz bei Bernd Schwering. Seit 2000 ist sie Professorin für Zeichnung, Druckgrafik und Grafikdesign an der Technischen Universität Dortmund. Werke von ihr befinden sich in vielen bedeutenden Sammlungen, etwa in der Staatlichen Graphischen Sammlung in München, im Kunstpalast in Düsseldorf und in der Sammlung Würth. Mit dem Kunstmuseum Albstadt ist seit den 1990er Jahren verbunden: 2001 hatte sie eine Solo-Schau („Leichte Verschiebungen“). Van Haaren lebt in Witten.