An ihre erste Trauerrede erinnert sich Andrea Keller noch genau. Es war eine Trauerfeier zu Corona, im Freien und im kleinsten Familienkreis. „Ich sehe die Menschen noch vor mir stehen. Acht Leute und der Mitarbeiter vom Friedhof. Ich war total nervös, aber es lief gut.“ Mehrmals in der Woche führt Keller seitdem als Freie Trauerrednerin in Aldingen und Umgebung persönliche Gespräche mit Witwen und Witwern, erinnert an gemeinsame Erlebnisse, lässt Tränen fließen und begleitet Angehörige beim Abschiednehmen – immer dann, wenn kein Pfarrer ins Spiel kommt. Im freien Rahmen.
Wer nun glaubt, der Beruf der Trauerrednerin sei dunkel und durchweg traurig, der irrt. Denn trotz aller Traurigkeit spielt bei freien Beerdigungen die Lebensgeschichte der Verstorbenen eine große Rolle. „Ich finde es wichtig, den Fokus auf das Leben und nicht auf den Tod zu legen“, sagt Keller. Darin unterscheidet sie sich von traditionellen christlichen Zeremonien, denn der Fokus liege dort meist auf dem, was kommt – auf dem Heim zu Gott. „Das entfällt in der weltlichen Rede im Normalfall“, erklärt Keller. „Aber trotzdem gibt es auch hier die Vorstellung, dass die Seele bleibt. Davon bin auch ich überzeugt.“ Deshalb sei Keller wichtig, dass die Zeremonie zum Verstorbenen und seinen Angehörigen passe, „nicht ins Schema, wie es immer war.“ Grundsätzlich sei dabei nichts unmöglich – auch spezielle Musik oder Rituale nicht.

Angehörige auf persönliche Ebene holen

Um dem Verstorbenen auf angemessene Weise die letzte Ehre zu erweisen, führt Keller im Vorfeld der Beerdigung lange Gespräche mit den Angehörigen – meistens bei ihnen zu Hause, um bereits dort einen Eindruck von der Familie und dem Toten zu bekommen. Denn anders als bei Trauungen kennt sie die Verstorbenen in der Regel nicht persönlich. „Ich versuche die Angehörigen dann auf die persönliche Ebene zu holen, was nicht immer einfach ist“, sagt die Mutter zweier Kinder. Oft dauere es eine Weile, bis der Damm gebrochen sei und die Trauernden ihr, als fremde Person, Dinge erzählen. Und deshalb sei in der Regel nicht das Reden die wichtigste Eigenschaft eines Freien Redners, sondern das Zuhören, sagt Keller: „Das Erfassen von Emotionen und von den Zwischentönen, diese richtig einzuordnen und daraus eine stimmige Rede zu machen.“
Einfach seien diese Treffen nie, gibt Keller zu. Aber „die Schicksale helfen mir, mein Leben relativ zu sehen. Wenn Dinge passieren, die nicht schön sind, weiß ich, dass ich nicht alleine dastehe.“ Immerhin teilen Menschen oft dieselben Schicksale. Auch dem Tod begegnet sie, seit dem Beginn ihrer Tätigkeit vor drei Jahren, auf eine neue Weise. Tag für Tag setzt sie sich damit auseinander. „Der Tod ist für mich ein Teil des Lebens. Wichtig ist mir aber, was davor passiert und dass irgendwas bleibt.“
Ihre Tätigkeit als Freie Rednerin sei für die gelernte Betriebswirtin eine Art Berufung gewesen. Ausschlaggebend war eine Trauerfeier im Jahr 2008. Damals noch – unzufrieden – in der Industrie tätig, verlor sie einen Kollegen durch Suizid „und diese Trauerfeier wurde damals von einer Freien Rednerin gehalten.“ Für Keller war es das erste Mal, dass sie Kontakt mit dieser Branche hatte. „Es war wie der berühmte Weckruf. Ich saß in der Trauerhallte und dachte ‚Das will ich machen‘.“
Bis sich Keller aber beruflich umorientierte, dauerte es noch einmal mehr als zehn Jahre, denn ihre beiden Kinder waren klein und das Haus noch nicht abbezahlt. „In solch einer Situation wechselt man nicht einfach in einen ungewissen Beruf.“ Der Gedanke aber blieb. „Die Idee war da, nur die Lebenssituation war die Falsche.“ Die änderte sich schlagartig mit dem Beginn der Corona-Pandemie und einer Kündigung ihres bisherigen Arbeitgebers im Jahr 2020. Statt Trübsal zu blasen, war diese der Startschuss für das neue Lebensprojekt. Und so nahm Keller Kontakt zu einer Freien Rednerin auf, die sie fortan coachte. „Somit habe ich mich voller Energie in das Projekt gestürzt.“

Netzwerk schnell aufgebaut

Anfangs hieß es für Keller: Klinken putzen. Eine Homepage, Flyer und Visitenkarten wurden schnell erstellt. Bestatter kontaktiert und ein Netzwerk aufgebaut. „Ich habe im August die ersten Telefonate geführt und im September die erste Rede gehalten. Es ging alles schneller als ich dachte“, sagt sie rückblickend. Inzwischen ist ihr Netzwerk gewachsen, auch über Mund-zu-Mund-Propaganda wird sie beworben.
Ihr Arbeitsalltag hat sich mit dem Schritt in die Selbstständigkeit grundlegend geändert. So ist Keller selbst für ihre Arbeitszeit verantwortlich. Ihr Start in den Tag sei, wenn sie keine Trauerfeier hat, „sehr gemütlich. Das ist der große Vorteil.“ So schreibt sie vormittags und nachmittags die anstehenden Reden. Zwischen zwei und sechs Stunden dauert das durchschnittlich – je nach Trauerfeier und Verstorbenem. Abends und am Wochenende führt sie die Gespräche dafür.
Eigentlich ist Keller auch Rednerin auf Hochzeiten und freie Taufen – bewirbt diese auf ihrer Homepage – dennoch ist sie größtenteils bei Trauerfeiern im Einsatz. Was die 56-Jährige aber nicht stört, denn gerade die besonderen Emotionen und die Gedanken über Leben und Tod machen für sie den Beruf so attraktiv.
Gleichzeitig sei die Emotionalität die größte Herausforderung. Zwar seien Gefühle für den kreativen Schreibprozess wichtig, zu nah lasse Keller diese aber nicht an sich heran. Und wenn das Gedankenkarussell doch mal außer Kontrolle gerät, hat Keller Raum für Ausgleich geschaffen. „Wenn ich weiß, es gibt vermutlich ein schwieriges Gespräch, dann ist immer die Schwimmtasche im Kofferraum“, sagt die Sportschwimmerin. Zwei bis drei Mal in der Woche sucht sie im Wasser den mentalen Ausgleich. „Da bin ich in einer Blase.“
Bereut hat Keller ihre Entscheidung einer beruflichen Umorientierung nie. „Ich hätte mir die Arbeit nicht so erfüllend vorgestellt und mache sie jeden Tag aufs Neue gerne.“

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Tausend Katholiken in Deutschland sind im Jahr 2021 aus der Kirche ausgetreten. Dem gegenüber stehen 280 000 Protestanten. Die Angaben stammen von beiden Kirchen. 2021 waren es bei beiden Kirchen noch jeweils 219 000 – und damit aufseiten der Katholiken rund 140 000 weniger als ein Jahr später.