Heulende Dissonanzen, zornige Tonsalven, elektrisierende Melodien? Auch Ludwig van Beethoven „rockt“, etwa in seiner Großen Fuge op. 133. Jedenfalls schockierte der Klassiker mit solcher Musik und einem revolutionären Gestus das zeitgenössische Publikum im frühen 19. Jahrhundert. Das Signum Quartett, eines der international sehr gefragten Kammermusikensembles, spielt am 8. März, 20 Uhr, in einem Konzert der Reihe „klassisch!“ im Ulmer Stadthaus eine „Rock Lounge“ und lotet die Berührungspunkte von Klassik und Rock aus: mit Werken von Mozart, Beethoven, Strawinsky, aber auch mit Songs von Cream oder Led Zeppelin in Bearbeitungen für Streichquartett. Ein Gespräch mit der Geigerin Annette Walther.
Rock, Pop, Klassik – wie sind Sie musikalisch sozialisiert worden?
Annette Walther: Stink konservativ! (lacht) Ich komme aus einem Elternhaus der großen Klassik-Fans. Mein Vater war Arzt und spielte Geige und Bratsche – also die klassische bürgerliche Kombination. Leidenschaftlich machte er Kammermusik, auch ich bin so zum Streichquartett gekommen. Jazz war noch gern gesehen, aber alles andere, was von der Klassik abwich, ging eigentlich nicht. So nach dem Motto: Beschäftigt euch mit etwas Sinnvollem!
Aber dann gab’s da noch eine andere musikalische Welt?
Natürlich. Durch Freunde, durch Klassenkameraden habe ich sie entdeckt. Es fing mit Songs von Queen an, eine fantastische Musik! Drei von uns im Signum Quartett haben eine ähnliche Vergangenheit. Aber unser in Kapstadt aufgewachsener Bratscher Xandi von Dijk, unser „Programmdirektor“, kommt aus einer südafrikanischen Musikerfamilie; er spielte Bass und Schlagzeug in verschiedenen Bands, begann auch schon früh zu arrangieren und ist musikalisch viel breiter aufgestellt als wir.
Von Xandi van Dijk stammen im ersten Konzertteil drei für Streichquartett bearbeitete Lieder Franz Schuberts – und sein Bruder Matthijs liefert die Rock-Arrangements und auch eine eigene Komposition.
Ja, es ist ein Glücksfall, wir sitzen an der Quelle, die Familie van Dijk beschert uns ein reiches Repertoire! (lacht) Wir sind total angefixt von diesen unglaublichen Stücken. Matthijs ist auch Songwriter, Rockbassist, spielt Geige in Bands, er hat eine große Erfahrung. Er kopiert nicht einfach die Rocksongs, sondern hat etwa in „Sunshine Of Your Love“ von Cream auch Zitate, Melodiefetzen von Jimi Hendrix, Janis Joplin oder The Doors eingearbeitet. Er übertragt E-Gitarren-Effekte aufs Streichquartett, setzt das Cello perkussiv ein oder legt eindrucksvoll den Gesangspart von Radioheads „Paranoid Android“ auf die Geige, mit wenig Vibrato, fahler Farbe.
Wie kam es zur „Rock Lounge“?
Wir möchten einerseits zeigen, was für großartige Musiker in den Rock-Bands solche Songs wie „Heartbreaker” spielten. Sie kannten sich teils hervorragend aus in der Musikgeschichte und beriefen sich auf Bach oder Beethoven. Und es lassen sich Analogien zur Klassik aufzeigen: Im Grunde waren ja auch schon Beethoven oder Strawinsky nicht nur musikalische Revolutionäre, sondern quasi Punks ihrer Zeit, die es geschafft haben, überkommene Strukturen aufzubrechen, neue Sichtweisen zu schaffen, in die Zukunft zu blicken.
Ludwig van Beethovens „Große Fuge” von 1826 klingt ja bis heute verwegen modern . . .
Ein gewaltiger Ritt mit einem so befreienden, humanistischen Finale; dieses Werk wird immer zeitgenössisch bleiben, sich in seiner Avantgarde niemals abnutzen, immer für sich stehen. Wir wollen Stücke aus Klassik und Rock nicht auf eine Ebene heben, aber es ist sehr spannend, diese mit ähnlicher Grundmotivation und Können geschriebene Musik zusammen in einem Konzert zu präsentieren. Und es macht einfach wahnsinnig Spaß, das aufzuführen.
Wie viel Rockband-Feeling steckt in einem Streichquartett?
Die Unterschiede sind im Kern nicht groß, nur dass unser Leben viel unglamouröser verläuft, wir nicht mit dieser Entourage unterwegs sind – na ja, und unser Alltag nicht von Sex, Drugs und Rock’n’Roll bestimmt wird. Aber da ist diese ungeheure Wertschätzung, das große Vertrauen, die Liebe zueinander im besten freundschaftlichen Sinne: dass wir einfach glücklich sind, miteinander spielen zu dürfen. Und wir können auf der Bühne ähnlich wie in einem Rockkonzert diese Intensität, diese Energie freisetzen.
Legendäre Rockbands profitieren von den Egos ihrer Stars – und zerbrechen auch daran. Große Streichquartette bestechen als Einheit, durch die perfekte Klangbalance . . .
Nein, Starkult gibt’s bei uns wirklich nicht. Aber es ist ein schmaler Grat, denn keiner sollte im Zusammenspiel seine Individualität verlieren, weshalb Toleranz untereinander gefragt ist. Das alles, diese Qualität im Musizieren, verdankt sich einem langen Arbeitsweg.
Und wie sieht das Verhältnis zu Ihren Fans, besser gesagt: zu Ihren Zuhörern aus – die Klassik ist ja eher von starren Ritualen geprägt?
Der Austausch mit dem Publikum ist uns elementar wichtig. Das hat auch die Corona-Zeit, in der man noch in Kameras hineinspielte, gezeigt. In Bremen haben wir 2022, gefördert durch das Bundesprogramm „Neustart Kultur”, das „SIGNUM open space” gegründet, wo wir uns auch in Proben oder Workshops dem Publikum öffnen. Wir wollen uns nahbarer geben, etwa auf der Bühne das Programm moderieren, das Publikum nicht als stummes Gegenüber betrachten, sondern den Kontakt aufnehmen. Umgekehrt interessiert es mich ja auch, was das Publikum eigentlich umtreibt. Wir sollten nicht nur luxuriös an den kleinsten Details einer Interpretation feilen. Das ist auch wichtig und schön, aber es geht um mehr.
Vor der „Rock Lounge“ werden Sie im Stadthaus ein Programm „zwischen Arkadien und Anarchie“ spielen: einen Quartettsatz von Franz Schubert, drei Liedbearbeitungen und auch Thomas Adès‘ „Arcadiana für Streichquartett“. Was hat es damit auf sich?
Dieser sehr besondere Abend ist eine Premiere für uns, eine „Special edition“ für Ulm – toll, mit viel Input für beide Seiten. Für uns ist der Schubert das Herz unserer Herzensprojekte; für das Label Pentatone nehmen wir die Quartette auf. Die Bearbeitung des Schubert-Lieds „Auf dem Wasser zu singen“ wiederum ist ein Verweis zu den „Arcadiana“ von Adès, deren dritter Satz den gleichen Titel trägt. Schuberts Musik handelt von unserer Verletzbarkeit im Leben, sie balanciert zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, sie ist fragil, berührend, aufwühlend geschrieben. Adès komponiert ähnlich vorausfühlend. Sein Streichquartett gehört zum technisch Allerschwersten, aber das Gemeine ist, dass man das gar nicht hört. Es ist eine zarte, entrückte, mystische, aber auch vehemente Klangwelt.
Zwischen Arkadien und Anarchie – wo ist denn auf dieser Skala Ihr Lebensgefühl verortet?
Es verändert sich so viel gerade in dieser Welt, und es ist nicht klar, in welche Richtung. Aber ich bin guten Mutes, und die Musik trägt uns, sie fordert uns auch, sie inspiriert, sie ist ein großes Geschenk.
Carnegie Hall und Ulmer Stadthaus
Als Gast unter anderem in der Pariser Philharmonie, der Londoner Wigmore Hall, dem Amsterdamer Concertgebouw und der Hamburger Elbphilharmonie konzertiert das 1994 gegründete Signum Quartett regelmäßig mit Partnern wie Nils Mönkemeyer, Dominique Horwitz und Elisabeth Leonskaja. Für 2023 steht das Debüt in der Carnegie Hall an.
In der Reihe „klassisch!“ spielt das Signum Quartett am Mittwoch, 8. März, 20 Uhr, im Ulmer Stadthaus. Auf dem Programm: Werke von Schubert und Adès („Arcadiana“) sowie eine „Rock Lounge“ mit Stücken von Mozart, Beethoven, Strawinsky und Schulhoff und Songs von Cream, Led Zeppelin und Radiohead in Bearbeitungen für Streichquartett. Vorverkauf: SÜDWEST PRESSE + Hapag Lloyd Reisebüro im Hafdenbad, Reservix und swp.de/ticketshop. Schüler und Studierende zahlen 9 Euro.