Mit Zeilen wie „Ich hab dein Herz auf links gedreht, und du fielst mir aus den Händen“ oder „Wir überkreuzten unsere Seelen“ setzt Herbert Grönemeyer der wahrhaftigen Liebe mit seinem Song „Urverlust“ ein Denkmal. Da knüpft der inzwischen 66-Jährige mit einer emotionalen Hochpotenz an die in Lieder gepresste Dünnhäutigkeit der „Mensch“-Zeit an, obgleich man ihn in den vergangenen Wochen bei öffentlichen Auftritten geradezu ausgelassen erleben durfte.
Seine auffallend gute Laune zieht Grönemeyer in einer Zeit, in der Krisen immer schneller getaktet sind, natürlich auch aus seinem ganz normalen Alltag als junger Vater. Im Jahr 2019 wurde der Bochumer zum dritten Mal Papa, das perfekte Glück in seiner zweiten Ehe mit Josefine Cox. „Die Freude über meine Kinder ist ungebremst“, ließ er mehrfach verlauten, genauso ist das aber auch mit der Lust an Neuem in der Musik. Das zeigt sein neues Album „Das ist los“: Neben den bewährten Melodiebögen und Harmonieflächen, die seine Stimme über 13 Songs hinwegtragen, lässt der Chef eines eigenen Musiklabels auch das Interesse an Musikgenres von HipHop bis House durchleuchten.

Ein Analyst unserer Zeit

Als er in Umbrien in einem kleinen mobilen Studio im Dickicht seiner Ideen zu stochern begann, konnte er noch nicht ahnen, dass „die Wände tapeziert mit Krisen“ unser aller Leben durch den Ukraine-Krieg noch deutlich mehr beschweren würden. Wie ein Schwingungsanalyst nahm er die Themen unserer Zeit auf, um sie mit dem gesammelten Wortschatz aus diversen Kladden zu verknüpfen, nachdem die ersten noch mit gänzlich sinnfreien Lautmalereien entstandenen Songs mit Zeilen gefüllt werden sollten.
Musik sei dazu da, einen zu rühren und zu bewegen, erklärt der Meister der großen Gefühle. „Da docken sich die Hörer fest. Ob das dann unbedingt das Gefühl ist, das ich vermitteln wollte, spielt keine Rolle. Jeder nimmt, was er möchte“, sagte Grönemeyer Anfang Dezember beim Lyrik Kabinett der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ganz pragmatisch, um dann zu betonen: „Der deutschen Sprache ihre Schönheit abzuringen, macht mir einen Heidenspaß.“ Es sei aber auch harte Arbeit.

„Bestimmt hundert Texte geschrieben“

Drei Singles hatte er der Albumveröffentlichung vorgeschaltet: das aufwühlende „Deine Hand“, der Frauenbewegung im Iran gewidmet, „Urverlust“ und „Angstfrei“. Da hatte er bereits nachgewiesen, dass er sich auch dieses Mal wieder den Korken aus der Flasche geschrieben hatte, um es dann mächtig sprudeln zu lassen. „Ich habe bestimmt über hundert Texte geschrieben.“ 13 davon haben es auf das neue Album geschafft. Einer Grundregel ist Grönemeyer treu geblieben. Auf leichteren Melodien müssen härtere Texte liegen oder auch umgekehrt. In der Show Late Night Berlin betonte er zudem: „Ein Text darf nicht nur mundgerecht sein, er muss auch Zuckungen auslösen.“
„In der Unruhe liegt die Kraft“ singt er in „Angstfrei“ über einem Retrosound der Neuen Deutsche Welle und macht Mut: „Manchmal geht der schwerste Lebenslauf verworrene Wege und dann doch auf. Tanz’ drüber nach.“ Auch mit dem heimlichen Tophit „Turmhoch“ wird er zum Anschieber. Aber da finden sich auch das starke „Herzhaft“, das pulsierende, der Heimatlosigkeit gewidmete „Der Schlüssel“ oder mit „Eleganz“ ein etwas holpriges Kinderlied. Bei „Eine Tonne Blei“ klingen die Zeilen dann doch zu sehr ins Maß gequetscht.
Auf „Das ist los“ will der Wahlberliner auf- und durchrütteln. „Muss die Welt erst in Flammen stehen, dass wir uns aus unsrem Koma drehen“, singt er in „Oh Oh Oh“ und möchte den Klimaaktivisten am liebsten die Räuberleiter für einen noch hörbareren Widerstand halten. Schließlich gehöre auch er zu der Generation, die in ihrer Wohlstandsgefälligkeit unseren Planeten an den Rand des Abgrunds gejagt habe. Alle müssten nun ihr Leben ändern. Er selbst fährt inzwischen nur noch E, seine Oldtimer-Sammlung soll der Autofan verkauft haben.

„Wir sind reifer als die Politik“

Auf seinem ganz eigenen Weg will der Musiker seiner geneigte Hörerschaft wortkreativ aus ihrem „Zweifelzwangsjackett“ oder „Tragikstau“ helfen und holt im Titelsong „Das ist los“ herzhaft und schlagwortgewaltig zum Pop-quietschigen Zeitgeist-Schwinger aus. Was sich neben typischen Grönemeyer-Songs im mehr oder weniger neuen Gewand durch das Album zieht: In einer in ihren Grundfesten erschütterten Welt beschwört er die Kraft der Gemeinschaft und des Zusammenhalts und fordert von der Gesellschaft mehr Eigeninitiative: „Wir schielen immer auf die Politik, aber als Gesellschaft sind wir die Politik. Wir sind selbstverantwortlich. Wir wissen selbst, was solidarisch ist. Wir sind reifer als die Politik es ist.“

Auf Tour auch in Stuttgart

Herbert Grönemeyer wartet nicht lange damit, die Songs seines inzwischen 16. Albums „Das ist los“ (Universal), in denen er sich mit dem Zustand unserer Gesellschaft beschäftigt, die sich durch Krieg, Krisen und die Jahre der Pandemie verändert hat, live zu spielen. Am 25. Mai kann man ihn in der Münchner Olympiahalle, am 27. Mai in der Mannheimer SAP-Arena und am 30. Mai in der Stuttgarter Schleyerhalle erleben.