Vögel fliegen durchs Festspielhaus, auch Fruchtfliegen und Schmetterlinge, zudem Felsbrocken, Baumgerippe, Avatare, Autos, Totenköpfe, Handgranaten, Kalaschnikows und alte Batterien. Echt! Also täuschend echt in 3D und vier Stunden lang. „Weißt Du, was Du sahst?“, fragt Gurnemanz einmal in diesem Bühnenweihfestspiel den wie erstarrten Parsifal. Der schüttelt nach dem Gralsritual am Ende des ersten Aufzugs den Kopf. „Du bist doch eben nur ein Tor!“, urteilt Gurnemanz. Guter, unfreiwilliger Gag: Der junge Held hat ja auch keine AV-Brille auf, möchte man sagen.
Operngläser gibt’s im Bayreuther Festspielhaus auch noch. Den Sängerinnen und Sängern von den hinteren Plätzen aus distanzlos nah sein, auf die Mimik schauen, die kleinen Gesten der Regie erkennen; aber das ist jetzt völlig altmodisch, denn es kommen AR-Brillen zum Einsatz: Es geht um Augmented Reality, die erweiterte Realität, man sieht damit noch eine ganz andere, über die Szenerie virtuell drübergelegte Bilderwelt.
Das kann eine zusätzliche Kulisse sein, ein Kommentar aus Symbolen oder auch einfach nur eine Illustration. Wenn Parsifal einen Schwan erlegt, dann rasen Pfeile auch auf einen selbst gefährlich zu – als könnte man, mitleidend, das Opfer sein. In Klingsors Reich, wenn die Blumenmädchen Parsifal verführen sollen, wird’s fantasievoll wuchernd floral. Seinen Speer schleudert der Böse dann geradezu ins Publikum. Und schließlich verschwindet nicht nur der Zaubergarten, das ganze Festspielhaus kracht zusammen – virtuell.

Sitzen die Brillen-Bügel?

Aber zunächst zur Praxis: Schon morgens um elf im Foyer ein Test wie beim Optiker – sitzt der Brillen-Bügel? Kurzsichtige sollten ihre Dioptrien-Zahl angeben, Sphären und Zylinder fürs linke und rechte Auge, damit für einen Ausgleich der Korrekturlinsen gesorgt werden kann. Nachmittags vor der Vorstellung findet man dann um halb vier am Platz seine verkabelte AV-Brille vor. Anweisungen, hilfsbereites Personal. Ein Riesenaufwand: „Parsifal“ auf dem Grünen Hügel in einer Inszenierung von Jay Scheib, die berühmte Gurnemanz-Weisheit „zum Raum wird hier die Zeit“ gewinnt eine ganz neue Dimension.
Allerdings: Diese AV-Brillen sind so teuer, gut 1000 Euro, dass pro Aufführung nur 330 Zuschauerinnen und Zuschauer eine haben können, die anderen knapp 1700 sind konventionell dabei bei Wagners. Also blicken wirklich auf eine eher statuarisch konventionelle Inszenierung.
Richard Wagner, den im 19. Jahrhundert auf Innovation setzenden Theatermagier, hätte das Experiment mit diesem modernen Illusionismus sicher gefallen. Aber was steckt dahinter? Mit diverser Software sind zunächst 3D-Modelle entworfen worden, etwa des Festspielhauses, und in diesem digitalen Raum haben die Programmierer und Designer animierte, virtuelle Objekte eingesetzt, die zum Leben erweckt werden. Als ob man sich in einer riesigen digitalen Requisitensammlung befinde, sagt Scheib, Theaterkunst-Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT): „Man entwickelt eine AR-Aufführung wie ein Videospiel und gleichzeitig probt man eine Oper“, sagt er. Okay, und Wagners Musik ist dann nur der Soundtrack?
Das ist das Problem, die AV-Dauerbildberieselung lenkt ab, so mancher legte bei der Festspielpremiere die Brille weg oder schloss die Augen – und genoss die wunderbare Aufführung. Es ist ja zuletzt viel gelästert, geklagt worden über die Bayreuther Besetzungen, aber dieser „Parsifal“ ist Weltklasse: mit Georg Zeppenfeld als dem konkurrenzlos funkelnd sonoren Gurnemanz, mit Derek Welton als verzweifelt siechem Amfortas, mit Tobias Kehrer als untotem Titurel, mit Jordan Shanahan als aufreizendem Klingsor. Als Parsifal relativ kurzfristig eingesprungen, aber bejubelt und stark: Andreas Schager mit seinem eher unverwüstlich brachialen Tenor, ein Wagner-Belcantist wird er nie, aber jetzt zeigte er erstaunliche, emotionale Klangfarben. Überragend aber: Elina Garanca als Kundry, großformatig auch auf dem Live-Video als Darstellerin zu bestaunen: luxuriöse Mezzo-Pracht, eine herrlich dramatisch flutende Stimme. Ob das jetzt das klassische Rollenprofil der ewig dienenden, geschundenen, verfluchten Kundry ist – egal.

Sensationelles Debüt von Pablo Heras-Casado

Dazu ein fast sensationelles Bayreuth-Debüt des Dirigenten Pablo Heras-Casado. Der kommt von der historisch informierten Aufführungspraxis, hat viel mit dem Freiburger Barockorchester gearbeitet und interessiert sich für jedes Partitur-Detail. Aber das ist kein besserwisserischer Selbstzweck, es ist ein ungemein organisches Musizieren mit dem Festspielorchester (und dem Chor und dem Ensemble): in der perfekten Balance, eher leise, unaufgeregt, mit einem wunderbar sich ausbreitenden Klang. Erstaunlich: In aller Ruhe entfaltet Heras-Casado den „Parsifal“ und ist mit vier Stunden reiner Spielzeit doch einer der schnellsten Bayreuth-Dirigenten. „Zum Raum wird hier die Zeit“ – musikalisch ist das eingelöst. Und die Akustik im sehr analogen, bald 150 Jahre alten Bayreuther Festspielhaus bleibt ein unvergleichliches Live-Erlebnis. 
Aber jetzt noch mal die Augen auf: Was erzählt Jay Scheib mit seinem Team? Ganz einfach von einer krisenhaften Zivilisation, von einer Endzeit, von Menschen, die ihre Natur, die Metalle, die seltenen Erden ausbeuten bis zum Untergang, die nicht mehr den Pulsschlag des Herzens begreifen. Die Gralsritter und der wunde Amfortas: Nach Erlösung suchen sie, kultisch, verzweifelt. Wer eine AV-Brille trägt, sieht im dritten Aufzug eine trostlose Unterwasserwelt mit Wohlstandsmüll, darunter eine ikonische weiße Plastiktüte. Parsifal ist der Retter, aber beim Abendmahl kracht ihm der heilige Gral zersplitternd zu Boden. Das aber ist ein Hoffnungszeichen: Weg mit all dem Schutt – zurück zur Kreatürlichkeit. Und im nun grünen See stehen Parsifal und Kundry. Alles wird neu gut?
Das Regieteam erhielt auch ordentlich Buhs – schwer zu sagen aus welcher Fraktion. Von Brillenträgern, die sich dann doch mehr als nur ermüdend wiederkehrende Bildeffekte wünschten, sondern in weit mehr inszenatorisch erhellende Realitäten eintauchen wollten? Aber, ja, die Werkstatt Bayreuth lebt.

Open Air auf dem Grünen Hügel: „Kinder, macht Neues!“

Über die hohen Eintrittspreise der Bayreuther Festspiele bis 459 Euro hat es viele Diskussionen gegeben, aber das Festspielorchester und etwa Daniela Köhler, die Brünnhilde des „Rings“, sind auch kostenlos zu erleben: beim „Festspiel Open Air“ auf dem Grünen Hügel. Tausende strömten am Montag wieder in den Park, das Wetter hielt – ausgelassene Picknick-Stimmung. Und auch hier, unter Bäumen: das Vorspiel zum „Parsifal“, diesmal dirigiert von Markus Poschner. Unter dem Motto „Kinder, macht Neues“ gab’s aber nicht nur Wagner, sondern etwa auch „Summertime“ aus Gershwins „Porgy and Bess“ – und Olafur Sigurdarson war nicht Alberich, sondern Falstaff: „Ehi! Paggio!“. Das Open Air wird bei freiem Eintritt noch einmal am 2. August, 20 Uhr, wiederholt.