Der frühere Bayreuther Patriarch Wolfgang Wagner kontrollierte sogar auf dem Parkplatz die Autos seiner Künstler. So war er gewappnet, als im Jahre 1985 der Heldentenor René Kollo nur 47 Minuten vor der Premiere als Tannhäuser absagte: „Ich gewahrte gepackte Koffer und einen beträchtlichen Achsendruck bei den hinteren Rädern.“ Aha, kombinierte der Festspielchef morgens messerscharf: Dieser Sänger plant die Abreise. Wagner hatte dann den Einspringer parat.

Wir wissen jetzt nicht, ob auch seine Tochter Katharina Wagner zu den Kontrollfreaks gehört und wie nahe sie an ihren Leuten dran ist, aber für die Öffentlichkeit zumindest war es vergangene Woche ein Paukenschlag, als die Meldung kam, dass Dirigent Andris Nelsons das Handtuch geworfen habe und aus Bayreuth geflüchtet sei – keine vier Wochen vor der Eröffnungspremiere der Festspiele mit dem „Parsifal“, dem heiligsten Stück der Wagnerianer. Einen Ersatz-Dirigenten nannte Katharina Wagner jedenfalls nicht sofort. Erst nach sechs Tagen präsentierte die Festspielchefin Hartmut Haenchen als neuen „Parsifal“-Dirigenten, als Erlöser mit Taktstock fürs Bühnenweihfestspiel.

Offiziell nichtssagend waren „unterschiedliche Auffassungen in verschiedenen Angelegenheiten“ der Grund für Nelsons’ Abgang: atmosphärische Störungen auf dem Grünen Hügel. Das kennt man. Und natürlich erhielt sofort Bayreuths Musikdirektor Christian Thielemann die Schurkenrolle: genialisch, aber großes Ego; ständig mische er sich ein in die Arbeit der Kollegen. Skandal!? Nur gab Thielemann der „Süddeutschen Zeitung“ am Samstag ein geradezu amtliches Interview und bedauerte Nelsons’ Abschied sehr, relativ glaubwürdig. Nelsons sei nicht im Streit abgereist, „seine ganzen Sachen sind noch hier in Bayreuth: die Partitur, sein Taktstock, seine gesamte Garderobe“.

Intrigen auf dem Grünen Hügel? Den Machtpoker der Götter im „Ring des Nibelungen“ hat  Richard Wagner nach sehr menschlicher Anschauung komponiert. Es geht dort auch zu wie im realen Bühnenleben. Eifersüchteleien: Thielemanns eigentlicher Rivale Kirill Petrenko aber, statt seiner zum Chef der Berliner Philharmoniker gewählt, hat den „Ring“ in diesem Jahr an Marek Janowski übergeben und macht nun seinen Hauptjob als Münchner Generalmusikdirektor bei den dortigen Opernfestspielen. Nelsons wiederum hat in Bayreuth ja schon erfolgreich den „Lohengrin“ dirigiert und sollte 2020 die nächste „Ring“-Neuinszenierung übernehmen – sicher nicht gegen Thielemanns Willen, im Gegenteil.

Der 37-jährige Nelsons aus Riga ist Chef des Boston Symphony Orchestra und auch neuer Leipziger Gewandhauskapellmeister und überhaupt ein Komet am Dirigentenhimmel.  Vielleicht ist der Lette tatsächlich ein Bayreuther Mobbingopfer, vielleicht ist ihm aber auch alles über den Kopf gewachsen, vielleicht ist er angeschlagen, hat eine menschliche Lebenskrise, kriegt sein Privatleben nicht auf die Reihe? Man weiß es nicht. Noch hat er sich nicht zu Wort gemeldet.

Bayreuth aber hat wieder einen Eklat vor dem Festspielstart. Und Gesprächsstoff. Es gibt ja keine vergleichbare Kulturinstitution, die mit Personalien Schlagzeilen bis ins Boulevard macht. Aber stets wird beschwörend aus Wagners „Meistersingern“ zitiert: „Hier gilt’s der Kunst!“

Also: Am Dienstagvormittag erreichte Hartmut Haenchen der Anruf aus Bayreuth, und zwar im Urlaub an der Ostsee, in Ahrenshoop. Dann packte der 73-Jährige schnell die Badehose wieder ein und fuhr ins Oberfränkische, gestern begannen für ihn schon die Proben. Das heißt, dass Katharina Wagner lange gesucht, nicht sofort Haenchen auf der Rechnung hatte und vielleicht auf Nelsons’ Rückkehr gewartet hatte.

„Zum Raum wird hier die Zeit“, heißt der berühmte Satz aus dem „Parsifal“, Haenchen muss sich jetzt freilich mit eher irdischen Dimensionen herumschlagen: Die Premiere am 25. Juli ist fix, die Generalprobe bereits eine Woche davor. So bleiben dem Bayreuth-Debütanten, der kaum Erfahrung hat mit der Akustik des Festspielhauses, wo das Orchester unsichtbar im Graben, im „mystischen Abgrund“, sitzt,  nur zwölf Tage und zwei Orchesterproben. Er werde „das noch Mögliche tun, seine Erkenntnisse über das Werk in Klang umzusetzen“, lässt Haenchen auf seiner sehr professionellen Homepage verlautbaren.

Ein Glücksfall ist Haenchen schon, dieser Sachse, der internationale Karriere machte in Amsterdam. Er kennt als Dresdner viele Musiker des Festspielorchesters und Wagners Werk sowieso. Allein 34 Mal dirigierte er den kompletten „Ring“ und auch den „Parsifal“  früh.  Haenchen arbeitet historisch-kritisch, durchleuchtet akribisch die Partitur, macht sich Gedanken, welcher Kammerton (443 oder 438 Herz?) für  Wagner-Aufführungen gilt. In Bayreuth muss er jetzt einfach nur ankommen, auspacken und sich schnell mit Regisseur Uwe Eric Laufenberg abstimmen.

Weltbürger aus Sachsen

Zur Person Der 1943 in Dresden geborene Hartmut Haenchen war Mitglied des Dresdner Kreuzchors und studierte in seiner Heimatstadt Dirigieren und Gesang. Er war Kapellmeister in Zwickau, Musikdirektor in  Schwerin, Gast an der Dresder Semperoper und an der Deutschen Staatsoper Berlin und bald einer der wichtigen und namhaften – von der Stasi bespitzelten – Dirigenten der DDR. Von 1980 bis 2014 leitete er, auch als Experte für die Alte Musik, das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach in Berlin. Von 1986 bis 2002 war Haenchen Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie und bis 1999 auch Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper in Amsterdam: als ein bis heute international gefragter deutscher Top-Dirigent, der hierzulande selten im Rampenlicht stand und steht.