Die 68er haben nach ihrem Marsch durch die Institutionen das Rentenalter erreicht, die Revolte ist längst ein Fall für die Historiker. Und das Mao-Plakat, das einst den Spießbürger ärgerte, gehört zur Geschichtsfolklore. So kann‘s gehen. Die 60er Jahre aber veränderten die bundesrepublikanische Gesellschaft grundlegend, waren ein „Jahrzehnt des Aufbruchs und des Wandels“ – natürlich auch im Südwesten, in der letzten Provinz.
Mit dieser Zeit beschäftigt sich jetzt eine Sonderausstellung des Stuttgarter Hauses der Geschichte: nicht nur mit dem Mythos 1968, sondern mit den 60er Jahren. Noch genauer: von 1958, als Kurt Georg Kiesinger als Ministerpräsident die Allparteienkoalition im Land übernahm, bis 1973, als die Ölkrise das Ende der Wirtschaftswunderzeit ankündigte.
„Denn die Zeiten ändern sich“, prangt auf dem Hippie-bunten, auch mit kreisrunder Brille dekorierten Plakat. Das taten sie in der Musik, in der Mode, beim Sex – eine Packung Anovlar 21 mit Antibabypillen steckt in einer zen­tralen Vitrine. Mit einem neuen Lebensgefühl sagte die Jugend, sagten die Studenten der Väter-Generation mit Nazi-Vergangenheit den Kampf an: „Protest“, „Eskalation“, „Freiräume“ heißen Kapitel der von Sebastian Dörfler und Katja Nagel kuratierten Ausstellung. Das ist jetzt alles nicht neu, bedient aber nicht nur die Sentimentalität der Veteranen, sondern erzählt den nachgeborenen Zeitgenossen, die oft nur per Handy oder am PC ihre Welt erleben, von einer ziemlich aufregenden Zeit der Popkultur, auf die sie neidisch sein könnten angesichts ihres politischen Selbsterfahrungsdefizits.
Nur dass das damals nicht alles lustig war, sich nicht in provokanten Happenings und Hasch-Partys erschöpfte, wie die Ausstellung auch zeigt: Es ging ja nicht nur um die familiären Unruhen, ausgelöst von Fragen des Haarschnitts. Auf einer raumgreifenden, auf einer im gesamten Großraum verteilten Video-Installation mit verschiedenen Projektionsflächen wird der Besucher mit der Weltpolitik und den nationalen Ereignissen geeicht, und zwar chronologisch, Jahr für Jahr: Ermordung Martin Luther Kings, Vietnam-Krieg, Dutschke-Attentat, Notstandsgesetze. Davor spielt sich das Leben in Baden-Württemberg ab, beginnend mit dem „Klang der Revolte“, von Beat bis Rock.
„Denn die Zeiten ändern sich“: Bob Dylans Song von 1964, „The Times They Are A-Changin’“, gibt der Ausstellung den Titel. Als Sprachrohr einer ganzen Generation hatte der mittlerweile zum Literatur-Nobelpreisträger Gekürte damals den Wandel besungen. Wobei es keine Frage des Alters, sondern der Haltung sein sollte. „Und dann gerät auf einmal alles in Bewegung, man springt ins Unbekannte und findet sich in einer anderen Welt wieder, die man instinktiv versteht – man ist befreit“. Ausstellungsleiterin Paula Lutum-Lenger zitiert aus Dylans Autobiografie und lädt dazu ein, nachzuprüfen, ob sich auch die Baden-Württemberger „befreit“ haben. Immerhin regiert mit Winfried Kretschmann heute ein Ministerpräsident mit kommunistischer Vergangenheit das Land, als Ober-Grüner, dem die CDU-Merkel sehr sympathisch ist.
Aber das ist ein anderes Thema. Auf jeden Fall wirkten in den 60ern die globalen Trends auch im Lande. Musik, ja, das war die emotionale Infizierung. Zu den Exponaten der Ausstellung gehört ein Stuhl, auf dem Jimi Hendrix saß, als er den Tag vor dem Konzert am 19. Januar 1969 in der Stuttgarter Liederhalle nutzte, um im Musikhaus Schweizer die Ausrüstung seiner Band aufzufrischen. Rock-Revolution, aber auch modischer Beat-Kommerz: Da organisierte der „Star-Club Bietigheim“ in der Sängerhalle Untertürkheim Shows unter dem Titel „Liverpool-Time“. Aber in Schwäbisch Hall verbot die Verwaltung Pop-Konzerte in städtischen Sälen, unter dem Vorwand der Lärmbelästigung für die Anwohner, aber eher aus Angst vor dem Neuen.
Aufruhr allenthalben. Eine Aktentasche Rudi Dutschkes liegt unter Glas, die der Vordenker der Studentenbewegung um 1972 bei Peter Grohmann in Stuttgart vergessen hatte. Grohmann und Willi Hoss, der spätere Gewerkschaftsführer, hatten mit dem „Club Voltaire“ und einer „Plakat-Gruppe“ sozialistische Opposition betrieben. Ob Club Alpha 60 in Schwäbisch Hall, die Galerie Zelle Reutlingen, der Club Bastion in Kirchheim/Teck, die Manufaktur in Schorndorf: Das waren die erkämpften „Freiräume“, Orte des Aufbruchs, in ihrer nachhaltigen gesellschaftlichen Wirkung sehr bedeutsam, teils bis heute existierend.
Und die Mode, klar: Auch sie befreite – von zu viel Stoff. Hot Pants auf der Alb, das war ein Skandal. Die Frauen kleideten sich mit neuem Selbstbewusstsein, begannen, das Geschlechterverhältnis zu klären. Auf einem Laufsteg zeigt das Haus der Geschichte auch ein rotes Minikleid, das eine junge Abiturientin 1972 bei der Abi-Feier trug: Mary Quants Minirock aus London war in Oberkollwangen bei Bad Teinach angekommen.
So lässt sich vieles erkunden in dieser Ausstellung, die nicht zuletzt viele Hör-Stationen anbietet. Selbstverständlich gehört die Bühne auch der Protestbewegung: „Sage Nein!“ heißt ein Kapitel, das die Eroberung des öffentliches Raums zum Thema hat. Proteste gegen die NPD, die Anti-Springer-Kampagnen, die ersten Ostermärsche auch im Land. Die bewegten Baden-Württemberger, nicht nur in den Uni-Städten. Geschichte ganz nah, ein historisches Selbstvergewissern – nicht nur für S 21-Gegner.

Fast 300 Exponate im Haus der Geschichte

Öffnungszeiten Die Sonderausstellung „Denn die Zeiten ändern sich . . . Die 60er Jahre in Baden-Württemberg“ läuft bis zum 24. Juni im Stuttgarter Haus der Geschichte; Di-So 10-18, Do bis 21 Uhr. Nach eineinhalb Jahren der Vorbereitung ist die Ausstellung unter Leitung von Paula Lutum-Langer entstanden und zeigt fast 300 Exponate auf 500 Qua­dratmetern. Rund 400 000 Euro hat dieses Projekt gekostet. Sehr informativ und empfehlenswert ist der Katalog (174 Seiten, 19.80 Euro). Infos unter www.die60er-jahre.de