Nathan Gray kennen die meisten Rock-Fans als Frontmann der Post-Hardcore-Band Boysetsfire. Oder von der Nachfolge-Band mit Boysetsfire-Gitarrist Joshua Latshaw: The Casting Out. Oder von I Am Heresy, die der heute in Elkton im US-Bundesstaat Maryland lebende Musiker 2011 mit seinem Sohn Simon gründete. Der Mann ist vielfältig. Zuletzt veröffentlichte er eine Solo-Platte, die der als Kind in der Kirchengemeinde seiner Eltern missbrauchte Sänger und Gitarrist, ehemals selbsternannte Satanist und bekennende Atheist bei zwei Konzerten in Deutschland aufgenommen hat – eins war in einer Kirche. Wie es dazu kam, erklärt der 46-Jährige von zuhause aus übers Telefon.

Weshalb ließen Sie sich zu
einer Session in einer Kirche
bewegen?

Nathan Gray: Wenn mir das vor fünf Jahren einer gesagt hätte, hätt’ ich gedacht, der nimmt mich auf den Arm. Erstmal wurden die Wiesbadener Ringkirche und die Dechenhöhle in Iserlohn von meinen Produzenten wegen ihrer Ästhetik und Akustik vorgeschlagen. Aber zugleich brachte die Erfahrung so etwas wie Heilung für mich mit sich. Die Kirchenleute in Wiesbaden waren zunächst besorgt wegen meiner früheren religionskritischen Äußerungen, aber dann habe ich ihnen geschrieben und erklärt, dass das nicht mehr die Person ist, die ich heute bin. Dass ich damit nicht ihre Gemeinde meinte und keinesfalls ihre Gefühle verletzen wollte. Dass sie das akzeptierten, hatte etwas Erlösendes.

Hinter Ihrer Haltung steht eine schreckliche Kindheitserfahrung. Wie kam es, dass Sie heute offen darüber sprechen?

Ich hatte den Missbrauch jahrelang verdrängt. Da sieht man die Dinge aber nicht mehr klar. In mir war so viel Wut. Das ist nicht die beste Perspektive auf die Welt oder die Menschen. Darauf folgte ein langer Bewusstwerdungsprozess. Das geht nicht über Nacht. Es begann im Prinzip, nachdem ich vor zwölf Jahren meine erste Band Boysetsfire vorübergehend aufgelöst hatte und mit meiner zweiten Band The Casting Out unterwegs war. Durch die Verarbeitung dieses Traumas kann ich erst jetzt Liebe und Empathie und Fürsorge für andere empfinden. Da bin ich sehr daran gewachsen.

Wie gelang es Ihnen, den ganzen Schmerz und Zorn zu überwinden?

Ich lebte mit Boysetsfire halt so ein wildes Party-Leben, wo es im Prinzip nur darum ging, sich wegzuhauen. Um all das, was da in mir schwelte, zu überdecken, brauchte es eine Menge Alkohol. Aber wenn man verkatert auf die Bühne geht, betrügt man die Fans nicht nur um ihr Geld, sondern auch um ihre Zeit. Und die wenige Zeit, die wir haben, ist so wertvoll. Irgendwann wurde mir das klar. Ich hatte den Hals gestrichen voll von diesem Image.

Was war der Wendepunkt?

Das war glaube ich, nachdem ich im Internet über den Islam  und Moslems gelästert hatte und merkte, dass sich Leute von meinen „Religion ist scheiße“-Posts wirklich verletzt und angegriffen fühlten. Da brach die Geschichte erst in mir und dann aus mir heraus. Das war schrecklich. Ich begann, mich gegenüber engen Freunden zu öffnen und erkannte, dass ich Hilfe brauche. Meine Freunde meinten, die Musik sei schon immer mein Ding gewesen, die könnte mir auch hierbei helfen. So nahm ich im Mai 2018 die Solo-Platte auf und sprach bei den beiden Auftritten ganz offen über alles, was mich belastet hat.

Sie klingen bei Ihren Ansagen zu den Live-Aufnahmen zum Teil extrem aufgewühlt. Das ist sehr berührend.

Es fiel mir nicht leicht, wie es für mich überhaupt schwierig ist, für mich selbst zu sorgen. Leichter ist es, wenn ich an andere denke. Und irgendwann machte ich mir klar, dass es auf eine Art ja auch egoistisch ist, diese Geschichte für mich zu behalten, da ich damit vielleicht anderen Opfern Mut machen und helfen kann.

Nehmen Sie es mir nicht übel, aber an manchen Stellen hört sich das, was Sie in den Live-Aufnahmen
zwischen den Songs sagen, fast schon wie ein Priester an.

Ja (lacht), deshalb will ich das auch nicht bei jedem Auftritt der Tour wiederholen und bin froh, wenn die Leute ergänzend dazu das Album kaufen, wenn sie diese Bekenntnisse interessieren. Das kann man nicht unzählige Male reproduzieren, weil es von so tief Innen kommt.

Haben Sie die Täter jemals direkt mit Ihren Vorwürfen konfrontiert?

Um ehrlich zu sein, ich weiß gar nicht, ob die überhaupt noch leben, so radikal habe ich die Brücken zu jenem Lebensabschnitt und jenen Kreisen abgebrochen. Aber einmal war ich mit zwei Freunden in der Nähe jener Kirche in Florida, und da hab ich mich auf den Parkplatz gestellt und zu meiner Gitarre ganz laut „Echoes“ gesungen, diesen Song über Kraft und Heilung. Das hat gutgetan, damit war das für mich irgendwie erledigt.

Sie sind ja nicht der erste Hardcore- und Punkrockmusiker, der plötzlich solo und akustisch seine weiche Seite entdeckt. Hat diese Wandlung etwas mit dem Älterwerden zu tun?

Reifer zu werden und sich dabei zu verändern, ist ja an sich nichts Schlechtes.

Live-Klänge eines Geläuterten

Die neue Platte Nathan Grays Solo-Album „Live In Wiesbaden/Iserlohn“ (End Hits/Cargo Records) ist als Doppel-LP mit DVD sowie als Doppel-CD mit DVD erschienen. Die Aufzeichnungen entstanden mit Gitarrist Ben Christo und Cellistin Isabelle Klemt bei ausverkauften Shows in der Wiesbadener Ringkirche  und der Iserlohner Dechenhöhle. Live-Video zur Single „Burn Away“: https://youtu.be/vw8QlMPnE-Y
Live Nathan Gray spielt auf seiner bis dato größten Solo-Tournee unter anderem in der schon ausverkauften Bochumer Christuskirche sowie am 14. März in München, Feierwerk, und am 16. März in Stuttgart, Club Cann. Support: Norbert Buchmacher aus Günzburg, der mit Mike Ness und Element of Crime verglichen wird.